Lockruf des Blutes
raten müsste, würde ich auf ihren Anwalt tippen. Er sieht jedenfalls so aus, mit sorgfältig zurückgegeltem Haar und einem teuren Anzug. Wir haben die einführenden Worte verpasst und schalten ein, als sie gerade zu sprechen beginnt.
»Danke, dass Sie so kurzfristig hier zusammengekommen sind. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass die Bürgermeisterin mir dieses Forum überlässt. Heute ist ein sehr trauriger Tag für meine Familie. Meine Tochter, Carolyn Delaney, wurde in der vergangenen Nacht brutal ermordet. Ihr Leben war nicht frei von Problemen, aber sie besaß eine reine, liebevolle Seele. Diese Unschuld haben andere ausgenutzt, und ich glaube, sie hat Carolyn sogar das Leben gekostet. Ihre Tochter, Trish Delaney, ist erst dreizehn Jahre alt. Doch im Gegensatz zu ihrer Mutter ist sie knallhart und verzweifelt. Carolyn war eine alleinstehende Mutter, die ihr Bestes getan hat, Trish unter diesen schwierigen Umständen großzuziehen. Sie wollte nicht einmal Hilfe von uns, ihren eigenen Eltern, annehmen. Sie hat sich ihre Ausbildung selbst finanziert und als Krankenschwester gearbeitet. Sie wollte Trish das Leben ermöglichen, das jedes Kind verdient. Aber manche Kinder lassen ihre Eltern eben einfach nicht an sich heran, sie können es nicht oder wollen es nicht. Trish ist weggelaufen, hat angefangen, Drogen zu nehmen, und jetzt das.«
Ihre Stimme versagt. Sie hält inne, sammelt sich und fährt fort: »Sie können nicht ahnen, wie mir das Herz blutet, weil ich hier vor Sie hintreten und eingestehen muss, dass ich glaube, meine eigene Enkelin könnte am Tod ihrer Mutter beteiligt gewesen sein. Doch bedauerlicherweise ist es so. Und ich habe nur eine Bitte an dich, Trish. Bitte, bitte stell dich den Behörden. Du brauchst Hilfe. Wir, deine Familie, werden dafür sorgen, dass du sie bekommst. Lauf nicht länger davon. Lass nicht zu, dass dieser Alptraum sich ewig hinzieht.«
Sie tritt vom Mikrofon zurück, und der Mann hinter ihr kommt nach vorn. Er hebt eine Hand, um die Flut der Fragen von den Reportern einzudämmen, die sich unter ihm drängen. »Mrs. Bernard wird zu diesem Zeitpunkt keine Fragen beantworten. Eine Abschrift ihrer Erklärung liegt für Sie bereit. Wir danken Ihnen für Ihre Zeit und Aufmerksamkeit.«
Dann werden die beiden von uniformierten Polizisten die Stufen hinauf in das Gebäude der Stadtverwaltung begleitet. Ich schalte den Fernseher aus und wende mich Ryan zu.
Sein Gesichtsausdruck ist so fassungslos, dass er mir beinahe das Herz bricht. »Sie glaubt, Trish hat das getan? Was für eine Großmutter würde denn so etwas sagen?«
Diese Frage könnte ich beantworten, aber es erscheint mir nicht angemessen, sie als »verdammtes Miststück« zu bezeichnen. Stattdessen zucke ich mit den Schultern und übe mich in erwachsener Selbstbeherrschung.
»Sie ist keine besonders nette Frau, Ryan. Das können wir nicht ändern. Aber wir können herausfinden, wem der Computer gehört, und diese Männer schnappen. Du und ich, wir wissen, dass sie es waren, die Carolyn und vermutlich auch Barbara Franco ermordet haben.«
Er reckt das Kinn. »Aber was wird jetzt mit Trish? Sie können sie nicht zwingen, bei dieser Frau zu leben, oder? Es muss doch irgendjemanden geben, der ihr helfen kann.«
Gibt es. Aber das kann ich Ryan noch nicht sagen. Ich brauche diesen Gentest, damit meine Familie offiziell das Sorgerecht für Trish beantragen kann. Doch tief im Herzen finde ich die Gewissheit tröstlich, dass wir Trish vor ihrer Großmutter werden schützen können. Nun wird mir klar, dass ich vollkommen akzeptiert habe, was Sorrel behauptet hat.
Wehe, sie hat sich geirrt.
Doch da ich über all das jetzt nicht sprechen kann, deute ich auf den Rucksack. »Das Wichtigste zuerst, Ryan. Lass mich diese Videos anschauen. Vielleicht bemerke ich etwas, das dir bisher entgangen ist.«
Es blickt skeptisch drein, widerspricht aber nicht. Er holt den Laptop aus seinem Rucksack und legt ihn auf den Couchtisch vor dem Sofa. Er schaltet ihn ein und dreht ihn zu mir herum.
»Ich kann mir das nicht noch mal anschauen. Es sind zehn Dateien. Jede wurde einzeln aufgespielt und verkauft. Die erste ist die jüngste. Hier sind sie, in umgekehrter chronologischer Reihenfolge. Drücken Sie die Enter-Taste, um den Film zu starten, und klicken Sie auf ›Weiter‹ unten rechts auf dem Bildschirm, um zum nächsten zu wechseln.« Er wirft mir mit schmalen Augen einen warnenden Blick zu. »Nur Enter und Klicken. Sonst rühren Sie
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