Lockruf des Blutes
einzige Beweis für das, was diese Männer mit Trish gemacht haben.«
»Ich bitte dich nicht darum, ihn herzugeben. Jedenfalls noch nicht. Aber, Ryan, bei der Polizei gibt es Experten, die vielleicht feststellen könnten, wo die Videos aufgespielt wurden. Oder die Männer, die darauf zu sehen sind, identifizieren können.«
Er schüttelt den Kopf. »Man sieht nie ein Gesicht.« Seine Stimme bricht.
Eine Frau hält neben mir und kurbelt ihr Fenster herunter. »Würden Sie bitte weiterfahren?«, schnaubt sie. »Hier ist nur Ein- und Aussteigen gestattet.«
Erst jetzt bemerke ich, dass die Schule vorbei ist und die Autoschlange der Eltern, die ihre Kinder abholen wollen, auf der belebten Straße schon einen kleinen Stau verursacht. Ich lächle entschuldigend und fahre los.
»Erwarten deine Eltern, dass du sofort nach der Schule nach Hause kommst?«, frage ich Ryan.
Er schüttelt den Kopf. »Die arbeiten und kommen erst so gegen sechs.«
»Ist der Laptop bei dir zu Hause?«
»Halten Sie mich wirklich für so blöd?«
Er ist wieder wütend. Das ist wohl besser als verängstigt. Ich beäuge den Rucksack, den er mit beiden Händen umklammert. »Okay. Das heißt wohl, dass du ihn bei dir hast. Ich will die Videos sehen. Vielleicht fällt mir etwas auf, was du übersehen hast. Wollen wir in mein Haus am Strand fahren?«
»Sind wir da allein? Ich will nicht, dass sonst noch jemand das sieht. Jedenfalls noch nicht.«
Ich nicke. »Ganz allein.«
»Okay. Aber Sie rühren den Computer nicht an. Ich habe Stunden gebraucht, um ihn so weit zu reparieren.«
Mit einem Nicken stimme ich zu. »Wenn wir auf den Videos niemanden identifizieren können, finden wir vielleicht heraus, von wo aus sie übertragen werden. Ich habe mal gehört, dass es eine Möglichkeit gibt, Daten zurückzuverfolgen …«
»Durch Abgleich mit einem Mobilfunksender, um die ESN herauszufinden«, beendet Ryan meinen Satz mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Das weiß ich. Das einzige Problem ist, dass wir jemanden bräuchten, der Zugang zu den Gesprächsdaten der Telefongesellschaften hat.«
Nun ist es an mir, ihm einen Seitenblick zuzuwerfen. »Ich kenne jemanden, der uns diese Aufzeichnungen beschaffen kann.«
Er fragt nicht, wen. »Dann haben wir sie«, sagt er. »Ich weiß nämlich, von wo aus die Videos drahtlos versendet wurden.«
»Tatsächlich? Von wo denn?«
»Von Trishs Wohnung.«
»Bist du sicher?«
Ryan nickt. »Trish hat mir erzählt, dass diese Kerle die Videos gedreht und dann sofort an eine Website geschickt haben. Dann wurden sie übers Internet verkauft, über eine illegale Seite namens Sexual Freedom For All . Toller Name, was? Die behaupten, ihre Videos würden aus Übersee kommen, und es macht sich eh niemand die Mühe, das nachzuprüfen.«
»Du weißt aber eine ganze Menge darüber.«
Er schnaubt. »Hab viel gelernt. Ich habe schon versucht, mich selbst in die Computer der Telefongesellschaften reinzuhacken. Ich bin gut, aber so gut bin ich dann doch noch nicht. Und ich musste sehr vorsichtig sein, damit sie mich nicht erwischen. Aber wenn Sie jemanden kennen, der an die Verbindungsdaten rankommt, können wir feststellen, wem der Laptop gehört.«
Zum ersten Mal höre ich so etwas wie Optimismus in seiner Stimme. Er schweigt eine Weile, dann fragt er leise: »Geht es Trish auch wirklich gut? Wie hat sie es aufgenommen, dass ihre Mutter tot ist? Es kam überall in den Nachrichten im Fernsehen.«
Das erinnert mich an die Pressekonferenz, die Carolyns Mutter für heute Nachmittag angesetzt hat. Ich schaue auf die Uhr. »Trish geht es gut. Aber, Ryan, wir fahren doch lieber zu meiner Wohnung. Trishs Großmutter hält in einer Viertelstunde eine Pressekonferenz ab. Die will ich nicht verpassen.«
Ich mache kehrt und fahre zurück in die Stadt. Es wird knapp, aber wir schaffen es gerade noch rechtzeitig zu meiner Wohnung. Ich versuche, Ryan auf das vorzubereiten, was er möglicherweise gleich hören wird. Aber ich fürchte, seine angeborene, jugendliche Skepsis sitzt nicht so tief, dass er das für möglich halten würde: dass Trishs Großmutter sie eines Mordes bezichtigt.
Mrs. Bernard wirkt im Fernsehen ganz anders, als Detective Harris und ich sie kennengelernt haben. Ihre Miene ist gefasst, aber ängstlich und bekümmert. Sie trägt ein dezentes dunkles Kostüm, eine cremefarbene Bluse mit offenem Kragen und eine Perlenkette. Sie steht allein vor dem Mikrofon, aber links hinter ihr ist noch jemand zu sehen. Wenn ich
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