Lockruf des Verlangens (German Edition)
ein Leitwolf. Und im Augenblick so hungrig, dass ich dir am liebsten ein Stück aus dem Leib reißen möchte, weil ich noch länger laufen musste. Stell endlich das Zelt auf.«
Sie setzte sich auf, rührte das Zelt aber nicht an. »Beiß dich doch selbst.«
Sie war also sauer. Das war in Ordnung. Und gefiel ihm sehr viel besser als der Schmerz der Geschlagenen, der sie vorher fast hätte zusammenbrechen lassen. »Ich schlage meine Zähne aber lieber in etwas Weicheres.« Er griff nach ihr, sofort schossen Flammen an ihrem Rücken und in ihrem Haar hoch. »Sienna – ?«
Sie hob die Hände. »Alles in Ordnung. Fass mich bloß nicht an.«
Es war die reinste Hölle für ihn, sich an diesen Befehl zu halten. Kaum waren die rotgelben Flammen erloschen, zog er sie auch schon in seine Arme. »Wie schlimm ist es denn?«, fragte er, denn er hatte den Schmerz in ihren Augen wahrgenommen, wusste inzwischen von der zweiten Dissonanzebene.
»Sehr schlimm. Aber nicht der Dissonanz wegen. Wenn die Kräfte einen bestimmten Punkt erreichen, wird die Dissonanz entweder schwächer oder kurzgeschlossen.« Sie schluckte. »Und es baut sich immer schneller auf – gleich nachdem du gegangen warst, habe ich das Feuer abgeleitet.«
Er spürte Eiseskälte – stark genug, um die Haut zu verbrennen – , als er das seidige Haar berührte. »Kann dich das X-Feuer auch verbrennen?« Sein Wolf lauerte nicht mehr, er visierte hoch konzentriert sein Ziel an, wie er es mit fünfzehn getan hatte, um das kranke Rudel zu retten.
»Das ist der normale Tod für X-Mediale, und wenn es so weit ist, kann niemand vorhersagen, wie weit die Explosion streuen wird.« Sie lächelte unter Schmerzen. »Deshalb nennt man uns perfekte Waffen. X-Mediale könnten die Erde versengen, alles rundum auslöschen, aber der Schaden für die Umwelt ist nur gering. Wie bei einem richtigen Feuer, wird die Erde danach stärker und gesünder – und die Angreifer können dann auf unberührtem Grund ihr eigenes Imperium aufbauen.«
Er wusste, dass sich noch etwas anderes hinter den vernünftigen Worten verbarg. »Und was verschweigst du?«
»Ming hatte eine Theorie: Falls es mir gelänge, meine Energien auch dann abzuführen, wenn Erden allein nicht mehr ausreichte, könnte ich beim erneuten Aufbau einen begrenzten Ausbruch provozieren, der nur mich allein verschlingen würde.« Sie sah ihn an. »Falls die Flammen jemals blau werden … hatte er damit recht. Versprich mir, dass du dich mir dann nicht nähern wirst.«
»Komm«, sagte er, denn er konnte ihr nichts versprechen, das er doch nicht halten würde. »Ortswechsel.«
»Wohin gehen wir?« Sie griff nach dem Zelt.
»Zu einem See hier oben. Wenn alles andere fehlschlägt, werfe ich dich hinein.«
»Ich weiß nicht, ob das funktioniert – das X-Feuer ist kein normales Feuer.«
»Immer noch besser, als eine menschliche Fackel zu sein, oder was meinst du?« Er wandte sich um und wollte ihr Kinn berühren, erstarrte aber, als er in ihre Augen sah.
Die erstaunlichen Kardinalenaugen wurden von Gold überschwemmt, in dem es blutrot aufleuchtete; die Zeit lief ihnen in rasender Geschwindigkeit davon.
Judd hätte nicht entscheiden können, ob Lara oder er mehr überrascht waren, als er in die Krankenstation teleportierte, die zerbrechliche Alice Eldridge in den Armen. Aber die Heilerin überwand den Schock schnell und kam mit einem Scanner in der Hand zu ihm. »Muss ich irgendetwas wissen?«, fragte sie, als er den nackten Körper der Wissenschaftlerin auf das nächste Krankenbett legte.
»Kryostase«, sagte er und konnte es selbst kaum glauben.
»Unmöglich.« Lara legte den Scanner hin und drückte einen Injektor an den Hals der leblosen Frau. »Niemand ist je mit intakten Gehirnfunktionen aus einem Kälteschlaf zurückgekehrt. Selbst die Medialen haben diese Methode vor über fünfzig Jahren für illegal erklärt.«
»Man hat sie vorher eingefroren, als die Experimente noch in vollem Gang waren.« Alice Eldridge war in einer Zeit des Chaos und des Umbruchs eingefroren worden – wahrscheinlich auf Befehl von jemandem im Umfeld des Rats, der die vage Idee hatte, sie wieder aufzuwecken, wenn sich alles beruhigt hatte und sie ordentlich Bericht erstatten konnte.
Doch niemand hatte sie je aufgeweckt, ihre Existenz war in der Woge von Silentium untergegangen. Vielleicht war der Urheber getötet worden oder hatte sie einfach vergessen, doch was immer auch der Grund war, Alice hatte ungestört über ein Jahrhundert an
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