Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
… doch. Es gab eine Treppe vom Dormitorium ins Refektorium. Soll ich noch mal nachsehen?«
»Nein, lass nur. Bringen wir’s hinter uns.«
Wir traten den Abstieg an. Lockwood ging wieder vorneweg, dann kam ich und als Letzter George. Wir fühlten uns alle drei unbehaglich. Es war deutlich zu spüren, dass es sich hier um einen sehr alten Ort handelte, der sehr weit von jeglichem Tageslicht entfernt war. Trotz der Kälte roch es muffig, und man hatte das Gefühl, dass einen die Wände von links und rechts bedrängten. Wir mussten den Kopf einziehen, weil lange Spinnweben von der Decke hingen. Meine Augen tränten vom Rauch der Kerzenflammen, ihr Geflacker warf unheimliche Schatten auf die gewölbten Wände.
»Pass auf, dass du nirgendwo reintrittst, Lockwood«, sagte George. »Der Junge von Fittes muss irgendwo hier liegen.«
Ich drehte mich nach ihm um. »Igitt! Warum sagst du so was?«
»Wahrscheinlich, weil ich Schiss habe.«
»Hm … kann ich verstehen. Mir geht’s genauso.«
Wir hatten alle drei Angst. Unsere Sinne waren aufs Äußerste angespannt, bereit, auf den kleinsten Hinweis zu reagieren. Noch war alles unauffällig: keine Geräusche, kein Todesschein, keine schwebenden Plasmaschlieren. Aber das bedeutete gar nichts. Auch das Rote Zimmer hatte zunächst einen trügerisch friedlichen Eindruck gemacht.
Auf halber Höhe öffnete sich die Treppe zu einer kleinen quadratischen Kammer mit zugemauerten Durchgängen auf beiden Seiten, dann ging es weiter abwärts. Lockwood blieb stehen. »Hier müssten wir ungefähr ebenerdig sein. Ich vermute, dass auf der anderen Seite dieser Mauer der Teppich hängt – der mit dem Bären, ihr wisst schon.«
»Dort war es besonders kalt«, sagte ich.
»Drei Komma fünf Grad«, bestätigte George. »Bis jetzt der niedrigste Wert im Haus.« Seine Stimme klang ein bisschen zittrig. »Wir sind schon ganz dicht dran.«
»Dann gehen wir ab jetzt lieber noch langsamer.« Lockwood gab eine Runde Pfefferminzkaugummi aus. Kauend stiegen wir weiter in die Tiefe, bewegten uns spiralförmig auf das Kellergeschoss zu. Mir kam ein beunruhigender Gedanke.
»Sagt mal … diese Treppe hier ist nicht zufällig die Treppe, oder?«
Hinter mir hörte ich George lachen. »Quatsch. Das war die andere, die große.«
»Sicher? Wird in den Geschichten über das Haus ausdrücklich gesagt, dass es sich um die Haupttreppe in der Eingangshalle handelt?«
»Ja.«
Stufe für Stufe ging es abwärts, immer rundherum, immer auf der Hut. Lockwoods Kerze flackerte heftig, die Flamme wurde kleiner, dann beruhigte sie sich wieder.
»Obwohl …«, fuhr George fort, »eigentlich nicht ausdrücklich. Es ist immer nur von der Alten Treppe die Rede. Aber so, wie ich es verstanden habe, geht man davon aus, dass es sich um die große Steintreppe mit den Drachen und den kleinen Schädelsockeln handelt.«
»Man geht davon aus … aha. Bloß komisch, dass wir dort nichts Übernatürliches wahrgenommen haben, oder?«
»Hier auch nicht!« Georges Ton war ganz untypisch entschieden. »Außerdem ist das doch nur eine Legende.«
Ja, vermutlich. Ich zog das nicht in Zweifel. Rein aus persönlicher Neugier zog ich einen Handschuh aus und ließ beim Hinuntersteigen die Finger über die Wand gleiten, als wir uns langsam immer weiter in die Tiefe schraubten.
Ich war erleichtert, als ich lediglich Kälte spürte, eine leblose Eiseskälte, die sich seit Jahrhunderten in dem uralten Gemäuer eingenistet hatte. Ich fröstelte und bekam eine Gänsehaut. Das war alles. Unangenehm, aber nicht mehr. Einfach nur Kälte.
Ich wollte die Hand gerade zurückziehen, da vernahm ich die Geräusche.
Zu Anfang waren sie noch ganz leise, kamen aber rasch näher. Das Stampfen von Stiefeln. Und dazu das Klirren von Metall. Das ganze Treppenhaus hallte davon wider und jetzt mischten sich auch Männerstimmen darunter – viele Männer. Man hörte das Rascheln ihrer Kleidung, das Scharren von Schwertklingen über Stein. Plötzlich waren die Geräusche überall um uns herum, verfolgten uns auf dem Weg nach unten. Ich roch heißes Pech, Rauch und Schweiß, aber vor allem stank es beißend nach Angst. Jemand rief etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand, aber es war ein Verzweiflungsschrei, ein Hilferuf. Kettenpanzer klirrten, man hörte einen dumpfen Schlag und ein schmerzerfülltes Ächzen.
Unaufhaltsam stampften die Stiefel weiter, stampften immer weiter nach unten, und mit jeder Treppenstufe wurde die Atmosphäre
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