Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
Beton.« Er tätschelte meinen Arm. »Nur Mut. Einfach umdrehen und fallen lassen. Uns bleibt sowieso nichts anderes übrig.«
Wo er recht hatte, hatte er recht. Als ich einen letzten Blick zurück ins Zimmer warf, waren die Flammen bereits bis an die Kaminwand vorgedrungen und züngelten in die klaffende Öffnung. »Wenn du meinst …«, sagte ich.
Lockwood verzog das rußverschmierte Gesicht zu einem strahlenden Lächeln. »Habe ich dich im letzten halben Jahr schon mal enttäuscht?«
Ich wollte eben anfangen, die ganze Liste abzuspulen, da kam die Zimmerdecke über dem Schreibtisch herunter. Brennende Holzsplitter sausten wie Lanzen herab und ein dicker Putzbrocken traf meine Schulter. Ich kippte nach vorn und über die Fensterkante. Als Lockwood sich nach vorn warf, um mich zu packen, verlor er ebenfalls das Gleichgewicht. Unsere Hände griffen ins Leere. Einen Augenblick schienen wir uns wie in Zeitlupe zu bewegen – zwischen Hitze und Kälte, Leben und Tod –, dann stürzten wir in die Tiefe und alles wurde schwarz.
Kapitel 5
Manche Leute behaupten, das Problem habe es schon immer gegeben. Geister seien nichts Neues, meinen sie, und sie hätten sich zu allen Zeiten gleich aufgeführt. Schon der römische Schriftsteller Plinius berichtet von einer Begebenheit, die sich vor rund zweitausend Jahren ereignet hat. Ein Gelehrter kaufte sich in Athen ein Haus. Der Kaufpreis war ungewöhnlich niedrig, und der Gelehrte musste bald feststellen, dass sein neues Zuhause heimgesucht wurde. In der ersten Nacht bekam er Besuch vom Wiedergänger eines hageren Greises in Ketten. Der Besucher bedeutete dem Gelehrten, er solle ihm folgen. Sie traten in den Hof hinaus, wo der Geist im Erdboden versank. Am nächsten Morgen befahl der Gelehrte seinen Dienern, an dieser Stelle zu graben. Natürlich stießen sie schon bald auf ein gefesseltes Skelett. Der Gelehrte ließ die Gebeine ordentlich bestatten und der Geist trat nie wieder auf. Ende der Geschichte. Ein klassischer TYP ZWEI , sagen die Fachleute, mit einer klassischen, schlichten Absicht, nämlich ein verborgenes Unrecht richtigzustellen. Genau wie heute. Insofern habe sich nicht viel verändert.
Mich überzeugt diese Argumentation nicht. Ich gebe zu, dass Plinius ein typisches Beispiel für die verborgene Quelle einer Heimsuchung schildert. Jeder von uns kennt Dutzende solcher Beispiele. Aber man muss hier auf zweierlei achten: Zum einen hatte der Gelehrte aus der Geschichte offenbar nicht die geringste Angst vor einer Geisterberührung und davor, dass er blau anlaufen, anschwellen und eines qualvollen Todes sterben könnte. Vielleicht war er einfach nur naiv (und hatte dabei auch noch eine ordentliche Portion Glück). Oder aber die Besucher waren damals nicht so gefährlich wie die heutigen.
Zum anderen traten Geister zu jener Zeit offenbar längst nicht so häufig auf wie heute. Es handelte sich anscheinend um das einzige Heimgesuchte Haus im alten Athen, sonst wäre der Kaufpreis nicht so auffallend niedrig gewesen. Im heutigen London gibt es allerorten welche und trotz aller Bemühungen der Agenturen kommen ständig neue dazu. Zu Plinius’ Zeiten waren Geister eine Ausnahme – heutzutage verbreiten sie sich wie eine Seuche.
Aus alldem schließe ich, dass die Geister von damals nicht mit dem Problem von heute zu vergleichen sind. Vor fünfzig, sechzig Jahren hat sich tatsächlich etwas Entscheidendes verändert, und kein Mensch hat die leiseste Ahnung, warum.
Wenn man in alten Zeitungen blättert, wie George es mit Vorliebe tut, stößt man ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hier und da auf eine kurze Meldung, dass in Kent oder Sussex ein Geist gesichtet wurde. Aber erst zehn Jahre später geriet eine blutige Serie solcher Vorkommnisse in die Schlagzeilen, zu der unter anderem der Schrecken von Highgate und das Phantom aus der Mud Lane gehörten. Jedes Mal folgte auf das plötzliche Auftreten übernatürlicher Erscheinungen eine ganze Reihe grausiger Todesfälle. Die üblichen polizeilichen Ermittlungen führten zu keinem Ergebnis, ein, zwei Beamte kamen ebenfalls zu Tode. Erst zwei jungen Forschern, Tom Rotwell und Marissa Fittes, gelang es, die jeweilige Heimsuchung bis zu ihrer Quelle zu verfolgen. Im Fall des Schreckens von Highgate handelte es sich um einen eingemauerten Totenschädel, im Fall des Phantoms um den Leichnam eines Straßenräubers, der an einer Wegkreuzung gepfählt und verscharrt worden war. Der Erfolg der beiden Forscher erregte
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