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Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)

Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)

Titel: Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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großes Aufsehen, und die Öffentlichkeit musste zum ersten Mal anerkennen, dass es so etwas wie Geistererscheinungen tatsächlich gab.
    In den folgenden Jahren häuften sich derartige Vorfälle. Zuerst in London und dem Süden, dann breiteten sich sich nach und nach im ganzen Land aus. Eine Atmosphäre der Angst griff um sich. Es gab Demonstrationen und Unruhen; Kirchen und Moscheen hatten nie gekannten Zulauf, weil so viele Menschen um ihr Seelenheil fürchteten. Fittes und Rotwell reagierten auf die Nachfrage und gründeten jeder eine eigene Agentur für übersinnliche Ermittlungen. Sie fanden rasch Nachahmer und kleinere Agenturen schossen wie Pilze aus dem Boden. Irgendwann ergriff die Regierung erste Maßnahmen, verhängte abendliche Ausgangssperren und erließ in den Großstädten eine Geisterlampen-Pflicht.
    Damit war das Problem natürlich nicht aus der Welt. Al lenfalls trat im Lauf der Jahre ein gewisser Gewöhnungseffekt ein und alle arrangierten sich mit den neuen Gegebenheiten. Die Bürger fanden sich mit der Situation ab und sorgten dafür, dass ihre Häuser mit Eisenriegeln und anderen Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet waren, alles andere überließen sie den Agenturen. Die Agenturen ihrerseits warben um fähige Mitarbeiter. Und weil Kinder und Jugendliche nun mal am sensibelsten für übernatürliche Phänomene sind, kämpften ich und meine Altersgenossen schon bald an vorderster Front.
    * * *
    Ich wurde als Lucy Joan Carlyle im vierten Jahrzehnt des Problems geboren, als es bereits offiziell anerkannt war, landesweit auftrat und auch kleinere Städte und Dörfer sich mit Geisterlampen und Alarmglocken eingedeckt hatten. Mein Vater war Gepäckträger auf dem Bahnhof einer nordenglischen Kleinstadt, deren schiefergedeckte Häuser und Steinmauern sich eng an die grünen Hügel schmiegten. Er war ein kleiner, wortkarger, rotgesichtiger Mann mit gebeugtem Rücken und er war behaart wie ein Affe. Sein Atem roch nach Bier, und wenn eines seiner Kinder es wagte, ihn in seinem dumpfen Gleichmut zu stören, setzte es derbe Ohrfeigen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass er mich je mit meinem Namen angesprochen hätte. Für mich bedeutete er nicht mehr als eine ferne, unberechenbare Bedrohung. Als ich fünf Jahre alt war, wurde er von einem Zug überrollt, und das einzige Gefühl, das mich danach beherrschte, war die Angst, wir könnten ihn vielleicht doch nicht ein für alle Mal los sein. Nach dem Unglück wurden die neuesten Vorschriften für sogenannte Unerklärliche Todesfälle penibel befolgt. Geistliche streuten Eisenspäne auf die Bahnschienen, man legte dem Toten Silbermünzen auf die geschlossenen Augen und hängte ihm ein Amulett um den Hals. Die Maßnahmen erfüllten ihren Zweck. Er kehrte nicht als Geist zurück. Meine Mutter meinte, selbst wenn er das täte, würde er uns in Ruhe lassen und lieber in seiner Stammkneipe herumgeistern.
    Vormittags besuchte ich die etwas außerhalb gelegene Schule, deren kleines Betongebäude am Hang über dem Fluss thronte. Nachmittags spielte ich in den Flussauen oder im Park, achtete dabei aber immer penibel auf die Sperrstundenglocke und war zurück in unserem sicheren Cottage, bevor die Sonne unterging. Jeden Abend sicherten meine Geschwister und ich unser kleines Haus. Meine Aufgabe war es, die Lavendelkerzen auf die Fensterbretter zu stellen und die Amulette an den Wänden zu überprüfen. Meine große Schwester zündete die Kerzen an und goss frisches Wasser in die Rinne unter der Veranda. Wenn meine Mutter bei Anbruch der Dunkelheit nach Hause geeilt kam, war alles fertig.
    Meine Mutter (stellt sie euch groß, rotwangig und immerzu müde vor) besorgte die Wäsche für die zwei kleinen Hotels in der Stadt. So gut wie alle Mutterliebe, die sie einst verspürt haben mochte, war durch Überarbeitung und Erschöpfung aufgezehrt worden. Sie hatte nicht mehr viel Kraft übrig, sich um ihre sieben Töchter zu kümmern. Ich war die Jüngste und sollte das letzte Kind bleiben. Tagsüber war unsere Mutter bei der Arbeit, abends hockte sie stumm in einer Lavendelwolke auf dem Sofa und schaute fern. Mich nahm sie nur selten zur Kenntnis und ich wurde überwiegend von meinen großen Schwestern aufgezogen. Für meine Mutter war ich nur in einem Punkt interessant, nämlich ob ich irgendwann meinen eigenen Lebensunterhalt würde bestreiten können.
    In meiner Familie war die Gabe erblich, das war allgemein bekannt. Als junges Mädchen hatte meine Mutter Geister gesehen und

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