Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
auch zwei meiner Schwestern verfügten über die Gabe des Schauens. Sie waren im dreißig Meilen entfernten Newcastle bei der Nachtwache angestellt. Allerdings waren sie nicht begabt genug, um sich bei einer Agentur zu bewerben. In meinem Fall jedoch zeigte sich schon sehr früh, dass ich außergewöhnlich sensibel für alles war, was mit dem Problem zusammenhing.
Ich muss sechs Jahre alt gewesen sein, als ich eines Tages mit meiner Schwester Mary, die mir auch vom Alter her am nächsten war, in den Flussauen spielte. Sie schoss ihren Ball ins Schilf und wir suchten lange danach. Als wir den Ball im sumpfigen Schlamm zwischen den hohen Rohren entdeckten, war es schon fast dunkel. Wir gingen gerade den Uferweg entlang, als das Glockenläuten über die Felder hallte.
Mary und ich schauten einander erschrocken an. Schon seit frühester Kindheit hatte unsere Mutter uns davor gewarnt, was alles passieren konnte, wenn wir bei Dunkelheit noch draußen wären. Mary fing an zu weinen.
Ich hingegen war ein tapferes kleines Mädchen. »Ist doch nicht so schlimm«, sagte ich. »Es ist noch früh. Da sind sie noch schwach wie Babys. Außerdem glaube ich gar nicht, dass welche in der Nähe sind.«
»Ich weine ja gar nicht wegen der Geister«, schniefte meine Schwester, »sondern wegen Ma. Wenn wir heimkommen, schlägt sie mich grün und blau.«
»Mich doch auch.«
»Aber ich bin die Ältere. Ich soll auf dich aufpassen. Dir passiert bestimmt nichts.«
Da war ich mir nicht so sicher. Unsere Mutter verrichtete neun Stunden am Tag körperliche Arbeit. Ihre Arme waren so kräftig wie die eines Mannes. Wenn sie zuhaute, tat einem der Hintern eine ganze Woche lang weh. Stumm und bedrückt trabten wir weiter.
Um uns herum waren nichts als Schilf und Morast und die sich herabsenkende Abenddämmerung. Vor uns funkelten die Lichter der Stadt. Sie wiesen uns den Weg, aber sie riefen uns auch in Erinnerung, was uns erwartete. Als die moosbewachsenen Stufen zur Straße in Sicht kamen, fassten wir neuen Mut.
»Hat Ma eben nach uns gerufen?«, fragte ich.
»Wie?«
»Ist das ihre Stimme?«
Mary blieb stehen und lauschte. »Ich hör nix. Komm jetzt, es ist noch ganz schön weit bis nach Hause.«
Das war leider wahr. Außerdem hatte ich nicht den Eindruck, dass die leisen Rufe von der Stadt herkamen.
Ich ließ den Blick über die Wiesen wandern, hinunter zum Fluss, der unsichtbar, braun und tief zwischen den Hügeln dahinfloss. Unten im Schilf glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, schief wie eine Vogelscheuche. Während ich noch hinschaute, setzte sie sich in Bewegung, nicht besonders schnell, aber auch nicht allzu langsam, und sie schlug eine Richtung ein, bei der sich ihr Weg mit dem unseren kreuzen musste.
Ich spürte, dass ich keine große Lust hatte, dieser Gestalt zu begegnen, und versetzte meiner Schwester einen Rippenstoß. »Mir ist kalt. Wer als Erste zu Hause ist!«
Wir rannten los. Alle paar Meter blickte ich über die Schulter und stellte fest, dass unser Verfolger sich größte Mühe gab, uns einzuholen. Er bewegte sich in humpelndem Laufschritt durch das hohe Schilf. Um es kurz zu machen – wir waren schneller und erreichten unbehelligt die Straße. Als ich mich dort ein letztes Mal umdrehte, lagen die sich bis zur Flussbiegung erstreckenden Wiesen grau und verlassen da, und nichts rief mehr aus dem Schilf nach uns.
Nachdem ich mir meine Tracht Prügel abgeholt hatte, berichtete ich meiner Mutter von dem Erlebnis. Sie erzählte mir, dass vor vielen Jahren, als sie selbst noch ein Kind gewesen war, sich eine Frau aus Liebeskummer im Fluss umgebracht hatte. Penny Nolan war ins Schilf hinausgewatet und hatte sich ertränkt. Wie nicht anders zu erwarten, kehrte sie als TYP ZWEI zurück, und zwar als einer von der bedürftigen Sorte, und erschreckte hin und wieder verspätete Passanten. Agent Jacobs hatte säckeweise Eisenspäne in den Flussauen verstreut, aber er konnte die Quelle der Heimsuchung nicht ausfindig machen, darum hatte Penny Nolan vermutlich niemals Frieden gefunden. Zu guter Letzt verlegte man den Uferweg und ließ die Stelle verwildern. Inzwischen wachsen dort Blumen.
Weitere Vorfälle wie dieser sorgten dafür, dass meine Gabe bald in der ganzen Gegend bekannt war. Meine Mutter wartete voller Ungeduld meinen achten Geburtstag ab, dann brachte sie mich ins Büro der Agentur Jacobs am Marktplatz. Der Zeitpunkt war günstig. Drei Tage zuvor war einer der Mitarbeiter bei einem Einsatz ums Leben
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