Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
breite, ge schwungene Vortreppe, außerdem eine Unmenge schmaler, unregelmäßig angeordneter Fenster. Das Alter des Hauses und seine Nutzung waren nicht zu erkennen. Das Foto schien entweder am frühen Morgen oder am späten Nachmittag aufgenommen worden zu sein. Die Sonne stand hinter dem Haus und die Schatten der zahlreichen alten Schornsteine auf dem Rasen glichen tastenden Fingern.
»Das ist Combe Carey Hall.« Fairfax kostete jede Silbe aus. »Es steht in der Grafschaft Berkshire, westlich von London. Vielleicht haben Sie schon davon gehört?«
Wir schüttelten alle drei den Kopf.
»Es ist auch nicht sehr bekannt, aber trotzdem ist es das Privathaus in England, das am schlimmsten heimgesucht wird. Mit den meisten Todesfolgen. Nach meinem Kenntnisstand sind allein vier frühere Besitzer aufgrund von Erscheinungen vorzeitig verblichen. Ganz zu schweigen von den Hausangestellten, Gästen und anderen Personen, die im Haus und auf dem Grundstück am Schreck oder der Geistersieche gestorben sind oder anderweitig den Tod gefunden haben.« Er lachte in sich hinein. »Die Liste ist lang. Seit dem letzten dieser schaurigen Vorfälle vor dreißig Jahren steht das Haus leer. Es wird erst jetzt wieder genutzt, wo es sich in meinem Besitz befindet.«
»Heißt das, Sie wohnen dort?«, fragte ich.
Der kahle Schädel wandte sich mir zu, die dunklen Augen funkelten. »Mir stehen noch mehr Wohnsitze zur Verfügung, wenn Sie das meinen. Aber ich halte mich von Zeit zu Zeit dort auf. Es ist ein Haus mit Geschichte. Ursprünglich war es ein Kloster, von einer kleinen Schar Mönche gegründet, die sich von einer großen Abtei abgespalten hatte. Einige Mauern des Westflügels stammen noch aus dieser Zeit. Danach gehörte das Haus einer Reihe von Landadligen. Sie bauten es wieder auf und fügten weitere Gebäudeteile an, bis es gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts sein heutiges Aussehen bekam. Aus architektonischer Sicht ist es eine seltsame Mixtur. Es gibt Flure, die vor einer Mauer enden oder im Kreis herumführen, Treppen, wo keine hingehören … Aber vor allem hat das Haus schon seit Jahrhunderten einen finsteren Ruf. Es gibt unzählige Geschichten über Besucher. Kurzum, es ist einer jener Orte, der schon lange vor dem Auftauchen des Problems heimgesucht wurde. Es heißt, dass …«
»Guckt da jemand raus?«, unterbrach ihn George. Während der alte Mann sprach, hatte er die ganze Zeit das Foto dicht vor seine dicken Brillengläser gehalten und es neugierig gemustert. Jetzt zeigte er mit dem plumpen Zeigefinger auf eine Stelle in der Fassade. Lockwood und ich beugten uns mit zusammengekniffenen Augen vor. Links oberhalb des Säulenvorbaus deutete ein dunkler dreieckiger Fleck so etwas wie ein Fenster an. Darin war ein verschwommener grauer Umriss zu sehen, fast zu undeutlich, um ihn zu erkennen.
»Soso, es ist Ihnen also auch aufgefallen«, sagte Fairfax. »Ja, man könnte denken, dort steht jemand und schaut nach draußen. Merkwürdig ist nur, dass dieses Foto ein paar Monate, bevor das Haus in meinen Besitz übergegangen ist, aufgenommen wurde. Das Haus war damals unbewohnt und verrammelt.«
Mr Fairfax trank einen Schluck Tee. Seine dunklen Augen zwinkerten. Wieder kam es mir vor, als amüsiere er sich insgeheim – als freue er sich geradezu über den Umriss auf dem Foto und das, was man daraus schließen konnte.
»Um welche Tageszeit wurde das Foto gemacht?«, fragte ich.
»Gegen Abend. Die Sonne geht gerade unter, wie man auf dem Bild auch sieht.«
Während er dieser Geschichte lauschte, leuchteten Lockwoods Augen vor mühsam unterdrückter Erregung. Er saß vorgebeugt da, die knochigen Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände verschränkt und ganz bei der Sache. »Sie wollten uns etwas über die Erscheinung erzählen«, sagte er. »Wie macht sie sich bemerkbar?«
Mr Fairfax stellte seine Tasse ab und lehnte sich seufzend zurück. Mit einer seiner großen Hände hielt er den Gehstock mit dem Eisenknauf fest, mit der anderen gestikulierte er beim Sprechen. »Ich bin ein alter Mann, Mr Lockwood. Ich selbst kann Erscheinungen weder sehen noch anderweitig wahrnehmen, jedenfalls im Allgemeinen. Aber die vergiftete Atmosphäre in diesem Haus fällt sogar mir auf. Ich brauche nur zur Tür hereinzukommen, schon schmecke ich es förmlich. Es liegt etwas Ungesundes in der Luft, Mr Lockwood, was die Seele befällt. Was die Einzelheiten betrifft …« Er rutschte ein bisschen auf der Sesselkante herum, als täten ihm
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