Lodernde Begierde
sich die Bewohner der Primrose Street große Mühe. Die handtuchschmalen Vorgärten der Reihenhäuser beherbergten so viele Blumen, wie nur irgendwie hineingingen. Es war auf schäbige Art charmant, wenn man sich die Mühe machte, es zu bemerken.
Als Graham zur unchristlich frühen Mittagsstunde vor Lady Tessas gemietetem Haus stand, hätte er sich nicht weniger für Blumen, dämliche Vögel oder selbst hübsche Mädchen interessieren können. Er hatte in der Nacht kein Auge zugetan und sich stattdessen dazu gezwungen, den Stapel an Unterlagen durchzulesen, den Abbott bei ihm zurückgelassen hatte.
Graham war kein dummer Mann, das wusste er, aber an diesem Morgen kam er sich wie einer vor. Wie sollte er bloß sein Informations- und Erfahrungsdefizit kompensieren, um Edencourt retten zu können?
Willst du das überhaupt? Wäre es nicht einfacher, gar nichts zu tun?
Sein Vater hatte offensichtlich nach diesem Motto gehandelt. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Graham das Bedürfnis, nach seinem Vater zu kommen – bis er von den Umständen las, in denen die wenigen verbliebenen Bauern lebten.
Seine Bauern. Seine Leute.
Was unerhört war, wenn man darüber nachdachte. Was für ein idiotisches Erbsystem würde ihm die Verantwortung für richtige Menschen übertragen? Er hatte sich bisher nicht einmal um ein Haustier gekümmert!
Doch die Last der Verantwortung ließ ihm keine Ruhe, nachdem er sie einmal auf sich genommen hatte. Er hatte so viel an Informationen in sein Gehirn gepresst, wie er im Augenblick verarbeiten konnte, dann hatte er Eden House verlassen und war ruhelos durch Mayfair gestreift, bis er an dieser vertrauten Adresse angelangt war.
Er konnte an nichts anderes denken, als daran, dass Sophie bestimmt wissen würde, was er tun sollte. Was natürlich noch idiotischer war.
Sophie war eine wohlerzogene junge Dame aus einem kleinen Landhaus. Sie war intelligent, wohl wahr, aber wissenschaftliche Übersetzungen könnten ihm jetzt nicht helfen.
Doch Sophie war die einzige Person in London, der er nicht egal war. Er wusste, dass sich das jetzt ändern würde. Wenn sein Titel verkündet wäre, würde er sich von einer wahren Flut aus »Freunden« überschwemmt sehen. Nicht so viele, als wenn er reich wäre, aber immer noch genug, um lästig zu sein.
Vorher wollte er einfach nur noch einen Tag lang nichts weiter sein als Lord Graham Cavendish, jüngerer Sohn, ein Mann des Charmes und Müßiggangs und ohne große Bedeutung. Während er die Stufen zur Haustür des gemieteten Hauses hinaufstieg, dachte er nicht daran, sich die Frage zu stellen, warum er diesen letzten Tag ausgerechnet mit Miss Sophie Blake verbringen wollte.
Graham betrat das Musikzimmer. »Sophie?«
Ihre Papiere lagen nach irgendeinem chaotischen System sortiert, das nur Sophie durchschaute, überall herum – wehe demjenigen, der auch nur ein einziges Blatt verschob.
Keine Sophie. Er wollte schon woanders nach ihr suchen, als er einen ihrer Slipper in der Nähe des Fenstersitzes entdeckte. Dann sah er bestrumpfte Zehen direkt neben dem Vorhang baumeln. Seine Mundwinkel zuckten müde. »Hab dich!«
Als er sich ihr näherte, bemerkte er, dass sie sich nicht vor ihm versteckte. Sie schlief, hatte die Schuhe ausgezogen und die von Papieren bedeckten Knie angezogen. Ihre Brille saß schief auf der Nase. Grahams grimmiges Lächeln wurde weich. Armes Ding. Sie arbeitete einfach zu hart an ihrer verfluchten Übersetzung, und Tessa machte ihr wahrscheinlich das Leben schwer, denn darauf verstand sie sich.
Behutsam zog Graham die Papierblätter von Sophies Schoß und legte sie beiseite, selbstverständlich ohne sie durcheinanderzubringen. Dann nahm er ihr mit zärtlichen Fingern die Brille von der Nase.
Ohne das Gestell und die Gläser kamen ihm ihre vertrauten hageren Gesichtszüge eher verletzlich und fremd vor. Sie war etwas ganz Besonderes. Schau sie sich nur einer an. Endlos lange Beine, die sie wie ein neugeborenes Fohlen unbeholfen unter sich gezogen hatte, tintenverschmierte Finger und abgekaute Fingernägel, das Haar offen …
Ihr Haar hatte den Kampf gegen Nadeln und die Schwerkraft aufgegeben und fiel ihr in einem schweren, geschlungenen Zopf auf den Busen. Neugierig streckte Graham die Hand aus, um den Knoten zu lockern, und hielt mit einem Mal völlig unerwartet eine erstaunlich seidige rotgoldene Fülle in Händen. Das Gefühl des warmen Haares zwischen seinen Fingern ließ ohne Vorwarnung seine männlichen Sinne
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