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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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weniger und mehr.
    Und Löwenstern vertiefte sich immer weiter in den Anblick seiner Hände, die ihm Unterweisung zukommen ließen, ohne dafür etwas anderes zu sein als leer. Sie sagten ihm: alles hängt am Gleichgewicht, und aus dem Spiel damit geht alles hervor – auch das Spiel, es hänge gar nichts daran. Es ist nicht das Gegenüber von Mann und Frau, Entweder-Oder, Meinung und Gegenmeinung, nicht einmal von Leben und Tod. Es ist das Gleichgewicht von Sein und Nichtsein, das der Schöpfung selbst zugrunde liegt und sie durch kleinste Verschiebungen entstehen und auch wieder vergehen läßt. Und der Mensch, für den dieses Gleichgewicht vorstellbar wird, kann nur noch staunen, daß überhaupt etwas ist, und nicht vielmehr nichts.
    Was gab es für Ermolai Löwenstern noch zu tun?
    Er fuhr noch ein wenig zu spielen fort.
    Er hatte zwei Hände, eine für Sein, und eine für Nichtsein. Und jetzt bückte er sich, um einen Stein aus dem Wasser zu fischen; er wußte welchen und wo er lag, denn gestern noch hatte er ihn selbst dahingelegt, an den Fuß der drei krummen Felstürme, die er zum Andenken an Moor aufgebaut hatte und die jetzt im Wasser standen wie die Originale an der Awatscha-Bucht. Er hatte diesen Stein etwas beiseite gelegt, denn nirgends wollte er passen; jetzt brauchte er nur die Hand ins Wasser zu tauchen, um ihn auf der Stelle zu finden. Es war ein über faustgroßer Malachitbrocken von nächtlichem Dunkelgrün. Der Stein, wie alle andern aus einer verwitternden Mauer gestürzt, mußte von weiter her sein, denn er blieb im Hof der einzige seiner Art. Löwensterns Hand befühlte seinen Körper, der zugleich etwas Bestimmtes und Geschmeidiges hatte; seine Seiten waren teilweise glatt ausgebuchtet, die Oberfläche ließ an Bearbeitung denken, doch wozu? Zugleich glaubte Löwenstern, der Form zu entnehmen, daß sie noch in keines Menschen Hand gelegen habe, und gefiel sich in der Phantasie, sie möchte wirklich vom Mond gefallen sein. Oder hatte er sie aus reiner Leere geschöpft? Unwillkürlich hatte er sie trockengestreichelt, und jetzt lag sie mit allen kleinen Widerständen fest wie ein Faustkeil in seiner Hand. Es war die Linke. Er war als Linkshänder geboren, und daß er mit der Rechten schrieb, aß oder grüßte, war ein Werk kindheitlicher Dressur. Was er unwillkürlich und von Herzen angriff, tat er immer noch mit links. Also entschied Löwenstern: es war die Hand des Seins, und die trockene Rechte mußte sich das Nichtsein gefallen lassen.
    Und wieder hob er beide Hände fast auf halbe Schulterhöhe; die linke um den Stein geballt, die rechte leer wie zuvor.
    Allmählich schien ihm das Gewicht der Hände fast einerlei; der Stein war ja gar nicht schwer; er mußte die Augen schließen, um das größere Gewicht seiner Linken zu
fühlen
. Und jetzt bewirkte seine Einbildungskraft, daß es noch schwerer wurde, allmählich fast untragbar. Seine Linke stemmte sich aufbegehrend gegen das Übergewicht, bis es Löwenstern einfiel, sich auf die vergesseneRechte zu konzentrieren. Und siehe da, ihre Leere begann, sich zu füllen – womit? Mit Gegengewicht. Er brauchte nur mit dem Herzen nachzuhelfen und konnte die Balance in seine Hände einwachsen fühlen. Er durfte damit schaukeln, sie stellte sich gemächlich, fast träge wieder her, wie die Luftblase in der Wasserwaage sich zwischen ihren Marken einpendelt. Das Gleichgewicht war stabil, und so merklich die Gewichte waren,
das Ganze war leicht
. Und der Punkt, auf dem die Waage ruhte, war er selbst.
    Und in diesem Augenblick ging ihm auf, was er sollte. Er öffnete die Augen und vertiefte sich in seine Hände. Wie brav die Linke ihren Stein festhielt! Aber jetzt sollte auch die Rechte zu schaffen bekommen. Er musterte sie ernsthaft, die Treuhänderin seiner Dressur, die sich hergab zum Gruß mit Handschlag, zum Schneiden mit dem Messer, zum Schreiben mit der Feder, zum Schwur auf den Zaren; jetzt, da sie leer war, sah er ihr auf die Finger. Dies war sein Nichtsein. Aber wenn er jetzt sein ganzes Gewicht spüren konnte – war es nicht auch schon ein halbes Glück? In der einen Hand der gebildete Stein, der schon etwas war – sein Dasein hatte ungeheures Gewicht. In der andern Hand alles, dem zum Dasein etwas gefehlt hatte, das Versäumte, Vergessene, Verdrängte und Verspielte – war das alles nichts? Oder konnte man sich nicht auch zum Nichtsein
bilden
, ihm so viel Gewicht zufließen lassen, daß Sein und Nichtsein sich die Waage hielten – und die

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