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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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eingedrungen war, nahm sie mich bei den Ohren.
    Ein für allemal, sagte sie. – Mir brauchen Sie nichts zu besorgen. Spüren Sie, daß ich geboren habe? Man leiert aus.
    Machen Sie die Beine zu, sagte ich. Sie gehorchte und begann sogleich zu stöhnen. – Ermolai, flüsterte sie, was machen Sie? Kind Gottes! rief sie, o du mein Kind Gottes! Sie bedeckte das Gesicht und drehte den Kopf weg.
    Sie spielte gekonnt. Als ich die Augen senkte, fielen sie an der Stelle, wo wir verbunden waren, auf ein erstaunliches Objekt. Es hatte sich aufgerichtet wie Rotkäppchen gegen den Wolf.
    Es schien doch etwas Ernsteres gewesen zu sein, denn Nadjas Hände konnten ihren Tränenstrom nicht halten; und als ich sie zutrösten suchte, beanspruchte mein Knecht, von ihrem Elend munter geworden, diese Rolle wieder für sich. Damit konnte er so lange nicht aufhören, bis Weinen und Lachen nicht mehr zu unterscheiden waren. Ein Blick auf Rotkäppchen zeigte mir, daß es immer noch wachsen konnte.
    Ermolai, was sind Sie für ein Kerl.
    Möchten Sie auch einer sein? fragte ich.
    Denen würde ich es zeigen! antwortete sie.
    Als ich mich zurückzog, war ihr Stachel verschwunden, nur das Käppchen lugte hervor.
    Ungern habe ich Goethes Geschenk aufgeschlagen. Ich soll Golownins Reise mitmachen, nachträglich, doch nachhaltig. Will man mich davon überzeugen, daß
meine
Gefangenschaft vergleichsweise gnädig zu nennen sei?
    Dafür sitze ich an einer Quelle, die ihm nicht zur Verfügung stand. Von Nadja lassen sich Dinge erfahren, die er nie zu wissen bekam. Ich komme zu spät, diesen Nachteil soll ich als Vorsprung nützen; dafür gibt es Feder, Tinte und Papier. Ich soll Golownins Reise nachstellen und mich dabei neu zusammensetzen, gleichsam hinter meinem Rücken. Gut ausgedacht. Aber vielleicht gar nicht so gut gemeint.
    Sie alle will Nadja gekannt haben: Resanow und Krusenstern, Chlebnikow und Moor, auch Chwostow und Dawydow – sogar Caspar Horner. Tolstoi hätte ich ihr gerne geschenkt. Doch zuerst hat sie sich mit dem Gouverneur etwas haben müssen, um zu ihrer Stelle zu kommen. Zu Golownin schweigt sie, aber mit Rikord hat sie eine Tochter, von der sie nicht redet. Alle Schamgrenzen sind verhandelbar, diese nicht.
    Nadja, die große Dame von Petropawlowsk.
    Manchmal fällt sie auch in die Mundart der Hafenhure, dann weiß ich: sie verschweigt das Beste. Aber nie, daß sie eine Prinzessin ist. Dieser Stammbaum gehört zum Repertoire.
    Wir waren zweimal in Kamtschatka, sagte ich, einmal
vor
Japan, einmal danach.
    Ohne Nadja hätte es gar kein zweites Mal gegeben, erwiderte sie, denn oft spricht sie von sich in der dritten Person.
    Wahr ist: die Expedition war so gut wie gescheitert, als wir, aus der Südsee kommend, den ersten russischen Hafen anliefen: Petropawlowsk-Kamtschatski. Die Streithähne sprachen nicht mehr miteinander, bis der Gouverneur eine Versöhnung zustande brachte. Es kam zur bekannten Polonaise, Krusenstern und Resanow Hand in Hand.
    Die Herrschaften waren ausreichend betrunken, sagte ich.
    Sie waren bei Nadja.
    Sie haben Resanow
nach Japan
wieder empfangen, sagte ich.
    Daran erinnern Sie sich noch? sagte sie. – Das ehrt mich.
    Es wurmte mich, sagte ich, ich gehörte zu Krusensterns Partei.
    Ich habe dafür gesorgt, daß mich Resanow nicht vergißt.
    Was meinen Sie?
    Es gibt Krankheiten, über die ein Gentleman nicht spricht, auch wenn er sie hat. – Warum werden Sie blaß?
    Ihre Pupillen waren klein geworden, die weit offenen Augen strahlen geisterhaft
    Pirdolitsch
? fragte sie.
    Ich verstand sie nicht.
    Polnisch ist ihre Muttersprache. Mein Knecht erstarrte immerhin, aber nicht genug. Wovor hatte ich Angst?
    3 Der Globus aus dem späten 18. Jahrhundert, französisch beschriftet, reicht mir bis unter die Schulter; ein höfisches Schaustück, denn dieses Format konnte sich ein bürgerlicher Gelehrter kaum leisten. Ich kann den vergilbten Planeten drehen, bis er dem Schreibtisch die größte Landmasse zuwendet. Eurasien hat Licht, das Reich der Mitte verdient seinen Namen. Nach der einen Seite flieht die europäische Halbinsel ins Halbdunkel weg, nach der andern der amerikanische Doppelkontinent. Rußland liegt wie ein angefrorener Wal um den Nordpol gekrümmt, und dieEisdecke zieht sich weit über seinen Rücken. Wo das Wasser vielleicht aufhört, vielleicht festes Land beginnt, ist nur durch eine punktierte Linie angedeutet. Heller Wahnsinn, zwischen den aufgeworfenen Zipfeln des russischen Erdteils eine Passage zu

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