Loewenstern
geschickt, und das hätte er, Moor,
nicht überlebt
.
Und in der Gefangenschaft war er bereit, die ganze Gruppe ins Elend zu stürzen. Er wollte Japanese werden, sagte Nadja geringschätzig, und am Ende war er der einzige, den die Japanesen nicht verstanden haben. Es waren Männer gefragt.
Murakami Teisuke, sagte sie, das war ein Dolmetscher! Man muß keine Stricke zerreißen, wenn man Netze knüpfen kann. Man muß lose Enden finden, notfalls selbst zu schneiden wissen.
In Golownins Bericht figuriert er als «Teske». Er habe als Adoptivsohn eines kaiserlichen Geographen die nördlichen Inseln vermessen und bis nach Sachalin hinauf erforscht. Er war ein guter Zeichner und studierte alle Quellen europäischer Naturwissenschaft und Ingenieurskunst, die ihm auf niederländisch zugänglich waren. Als ihn der Hof in Edo zu den gefangenen Russen schickte, machte er sich als erstes ihrer Sprache kundig, in Wort und Schrift.Teske lernte, daß sich im Verkehr mit Fremden nichts mehr von selbst versteht – auch nicht die eigene Ordnung. Er setzte sie (aber ich sage es mit
meinen
Worten) einer Prüfung aus, welche seine Oberen hätten verbieten müssen, wenn sie ihre Tragweite verstanden hätten. Denn in einem Kopf, der
vergleicht
, kann viel in Bewegung geraten: zuerst die Annahme des Vergleichbaren, dann aber auch die des Ungleichen. Teske lernt mit den Motiven der Gefangenen auch ihren Hintergrund zu verstehen. So teilt sich nicht nur seine Zunge, sondern auch seine Sympathie. Er wird zum Doppelagenten, der weiß, wann er seine Kompetenz verbergen muß oder verleugnen. Er versteht die Russen sogar, wenn sie sich selbst verkennen. Er ist aber auch so frei, ihnen ins Gesicht zu widersprechen. Er lernt, welche Macht die Sprache verleiht und wie man ihr Bedeutung entzieht. Diese Kompetenz nützt er zugunsten der Gefangenen; und für seine eigene Freiheit.
Ich aber habe, dank Teisuke Murakami, eine neue Nadja kennengelernt. Die Enkelin Benjowskis ist stolz darauf, keine Diplomatin zu sein, aber sie versteht etwas von Politik.
Sie haben Ihre Agentin gut gewählt, Exzellenz.
6 Als Nadja das Buch Golownins auf meinem Tisch offen sah, sagte sie: Sind Sie noch nicht weitergekommen?
Ich fange wieder von vorn an.
Was war Golownin für ein Mensch? –
Carnal knowledge
von ihm besaß sie angeblich nicht, und ich war geneigt, ihr zu glauben. Golownin hatte in Petersburg eine Braut und die seltene Eigenschaft, Untreue bei andern zu ertragen, ohne sie selbst nötig zu haben.
Ein Mann ohne Attitüde, sagte sie. – Pochte nie auf seine Autorität, er hatte sie. Konnte auch begriffsstutzig sein. Es gab Menschen, die er nicht verstehen
wollte
. Dazu gehörten die Frauen. Viele wußten das zu schätzen. Als Frau brauchst du einen Mann, der dich
nicht nur versteht
.
Nadjas Männer müssen sensibel sein, aber ohne Empfindlichkeit. Allmählich lerne ich diese Männer kennen und ertrage sogar Nadjas Respekt ohne Häme, natürlich erst recht ohne Empfindlichkeit. Hie und da mokiert sie sich zwar über «ganze Männer», doch über andere redet sie gar nicht.
Warum interessieren Sie sich für Moor? fragte sie.
Weil er sich Golownins Flucht nicht angeschlossen hat. Er wollte gar nicht befreit werden, er wollte in Japan bleiben und betrachtete die Gefangenschaft als Chance.
Ach Gott, sagte Nadja. – Zuerst wollte er der japanesischen Güte nicht würdig gewesen sein, dann der russischen. Ich habe ihm gesagt: Reden Sie doch nicht immer davon, daß Sie sich erschießen wollen. Tun Sie’s!
Das haben Sie ihm gesagt?
Er sprach immer von Würde – aber die Einbildung auf sein Unglück hatte keine. Chlebnikow hatte aufgegeben, punktum. Er brauchte keine Maske, hatte ja kaum noch ein Gesicht. Mußte nicht schwach werden – er war es. Wer gründlich genug gefallen ist, wackelt nicht mehr. Als Gefangener blieb er stark – zerflossen ist er erst hinterher. Bei Nadja hat er geheult wie ein Hund – Moor blieb nach der Gefangenschaft so steif wie vorher, war sich sogar zu gut, zu wimmern wie Horner.
Horner hat geweint? Warum?
Weil er nie durfte, wie er wollte. Durfte nicht einmal wollen.
Er war mein Freund, sagte ich, ein Lichtblick auf der
Nadeschda
.
Man kann auch von Traurigkeit leuchten, sagte sie, dann ist sie hoffnungslos. Sie müssen Menschen
lesen
, Ermolai. Freunde sind gut, viel besser als nichts. Aber gar nichts, weniger als nichts – das ist auch etwas. Wenn du glaubst, du kannst nicht mehr –
lassen
kannst du immer
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