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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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zu bezahlen; daß es schon als Fortschritt gilt, wenn er sie nur mit dem Boden zusammen hergeben kann. Die Gemeinheit Chwostows mußte ich nicht erklären, wohl aber das Ärgernis einer Frömmigkeit, welche das Elend von Leibeigenen in die Hände Gottes legen muß, weil sich keine Menschenhand dafür rührt. Noch weniger konnte ich erklären, wie sich eine Nation gebildet nennen darf, deren erdrückende Mehrheit weder lesen noch schreiben kann
.
    Nicht einmal Ihre nutzlose Flucht wäre Ihnen gelungen, WassiliMichailowitsch, wären die Wächter nicht in ihre Bücher vertieft gewesen! Sie lesen sie laut, wie heilige Schriften. Die Bauern- und Fischersöhne lesen Chikamatsu, ihren Shakespeare, der für Puppen geschrieben hat. In Matsumai, als Sie auf der Flucht waren, wurde mir erlaubt, ein Puppenspiel zu sehen; man vergißt dabei, wer Mensch und wer Puppe ist. Sollten Sie jemals
ernsthaft
wissen wollen, welches Land Ihnen zu betreten vergönnt war, sehen Sie sich ein japanesisches Puppenspiel an! – Aber dazu werden Sie nicht mehr kommen. Der Lorbeer des Zaren wartet auf Sie
.
    Wo haben sich unsere Wege getrennt? Als wir das neue Haus in Matsumai bezogen, hat man dafür auch einen Garten angelegt. Er stellte eine Seelandschaft dar, mit Inseln, auf die kleine Kiefern gepflanzt waren; es braucht Kunst und Liebe, sie so klein zu halten. Dieser Garten war nicht zum Betreten geschaffen, man durfte nur die Augen daran weiden. Erinnern Sie sich, was Sie bemerkten? «Das soll ein Garten sein? Diese Pfütze, ein paar Erdhaufen?» Das war die Sprache eines Barbaren. Ich aber wußte, in diesem Augenblick: in einem Land, das solche Gärten baut, kann ein Mensch wie ich leben und sterben
.
    Erinnern Sie sich, wie uns der alte Mann, der für unsere Beköstigung sorgte, Bilder mit japanesischen Frauen zeigte? Er bat uns, sie zu behalten. Wozu? – Ihr könnt sie manchmal aus Langeweile beschauen. – Der Abscheu war Ihnen anzusehen, Wassili Michailowitsch, und ich wollte die Lage mit einem Scherz retten: Wir müßten uns die Bilder versagen, damit sie nicht den Wunsch aufkommen ließen, um lebende Originale zu bitten; ob der Gouverneur uns dies wohl gewähren würde? Nein, nein, erklärte der Dolmetscher lachend, jetzt geht es nicht an, vielleicht später. Als wir wieder unter uns waren, hielten Sie einen Vortrag des Inhalts: unter den Lastern der Japanesen scheine Ihnen die Wollust das Auffallendste zu sein und genieße auch noch die Förderung der Obrigkeit!
    Wirklich befanden sich in der Nachbarschaft einige Freudenhäuser, in denen Tag und Nacht getrommelt wurde, und bei einem Spaziergang führte man uns daran vorbei. Da sprang wohl ein Dutzend der jungen Frauen an die Tür, um uns zu betrachten; Sie merkten an, daß sie auch einem gleichen Hause in einer europäischen Hauptstadt keine Schande gemacht hätten. Keine Schande!
    Als Sie sich auf Ihrer ehrenwerten Flucht befanden, Wassili Michailowitsch,packte mich schiere Verzweiflung. Ich wußte ja bestimmt, daß Sie wieder gefangen würden, dann fürchtete ich für uns alle das Schlimmste. Ich hatte Sie ausreichend gewarnt; Sie aber hörten nur die Sprache des Verrats. Aber selbst wenn meine Weigerung, mich Ihrer Flucht anzuschließen, mir einen Vorteil gebracht hätte – glauben Sie, ich hätte ihn ausgenützt? Ich wußte nur zu gut, daß ich Ihr Schicksal auch unverdient teilen würde. Als man Sie wieder gefangen hatte, habe ich das Äußerste getan, den Japanesen das Ehrenhafte Ihres Versuchs darzustellen; das haben Sie nie bemerkt. Von mir selbst hörten Sie ja nur, daß ich Ihr Vorhaben verurteilte – das tat ich nicht erst, als es gescheitert war, und ich tue es auch heute noch. Nach Resanow hätten wir
wirkliche
Botschafter Rußlands in Japan sein müssen und werden können – aber nur als Gruppe.
Allein
konnte ich es nicht
.
    In Ihrer Abwesenheit führte mich Teske, um meinen Kummer zu lindern, ins Haus der Frauen, und diesmal nicht nur daran
vorbei
. Was mir geschenkt wurde, behalte ich für mich. Ich hoffe nur, diesem Haus sowenig «Schande» gemacht zu haben, wie dieses – nach Ihren Worten – Petersburg oder Paris gemacht hätte. Von diesem Augenblick an fühlte ich mich nicht mehr als russischer Untertan. Nicht ich war es, der nein sagte –
Es
in mir sagte Nein. Ich hatte mich von Ihrem Bild der Welt gelöst. Meine Freiheit brauchte ich nicht mit einem gestohlenen Schiff zu suchen; sie hatte mich gefunden. Ich wurde ein anderer Mensch. Aber für die Japanesen

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