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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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seine Tage in Japan zuzubringen, sieht gar seinen Beruf darin, den Japanesen als Dolmetscher zur Welt zu dienen. Wie sollten die Mitgefangenen den Schlafwandler ernst nehmen? In ihren Augen erschleicht er sich nur einen persönlichen Vorteil, betreibt gar seineeigene Befreiung auf ihre Kosten. Als sie sich zur Flucht entschließen, fällt er ihnen in den Rücken. Dafür gibt es nur einen einzigen mildernden Umstand: Er muß verrückt geworden sein.
    Ob Golownin ernsthaft an seine Chance zur Flucht geglaubt hat, steht auf einem anderen Blatt. Das Vorhaben war verzweifelt, aber auch wenn es ihn nicht retten konnte – den Versuch war er seiner Ehre schuldig. Schon einmal war ihm ein verwegener Ausbruch gelungen. Die
Diana
hatte ihren Südwestkurs um Kap Hoorn wegen schlechten Wetters abbrechen müssen, und auf der langen Fahrt hatte die Besatzung gar nicht mitbekommen, daß sich ihr Land inzwischen im Kriegszustand mit England befand. Als die Fregatte an der Südspitze Afrikas anlegte, wurde sie konfisziert und viele Monate festgehalten; am Ende sollte die Mannschaft zum Arbeitsdienst für den Feind verpflichtet werden. Da gelang Golownin mit einem seemännischen Husarenstück der Durchbruch ins freie Meer.
    Jetzt aber saßen sie, zu siebent oder acht, an einem Ort fest, wo ihnen nur noch von außen zu helfen war – und dieser Ort lag in einem Land, das keine Verbindung nach außen unterhielt. Zwar waren die persönlichen Effekten und Bücher, die Rikord, vor der Abfahrt der
Diana
, an einem einsamen Strand hinterlegt hatte, bei ihren Adressaten, zweifellos nach gründlicher Musterung, richtig angekommen. Aber das willkommene Zeichen war ein zweideutiges Signal. Auch Ausgesetzte und Abgeschriebene, für die man nichts mehr tun kann, werden so abgefunden. Man durfte nicht zweifeln an Rikords Willen, für die Befreiung der Kameraden alle Hebel in Bewegung zu setzen, doch an ihrer Wirksamkeit konnte man nur
ver
zweifeln. Denn die stärkste russische Antwort – Kriegsschiffe – wäre auch die hoffnungsloseste gewesen, jedenfalls für die Gefangenen.
    Die Japanesen haben sie nicht als Geiseln betrachtet, hatte Nadja einmal gesagt, sondern als
Menschen
. Sie waren nur zu retten, wenn sie zeigen konnten, wer sie
sind
.
    Geiseln sind Handelsgegenstände, und für Japan gab es keine Not, mit der Außenwelt zu verhandeln. Die Ausnahme von derRegel – eine künstliche Insel im Hafen von Nagasaki – betrieb es als Isolierstation. Es ließ nur so viel fremdes Wissen herein, wie es zur Selbsterhaltung unentbehrlich fand, verteilte es unter ausgewählte Eingeweihte wie Teisuke und kontrollierte seine Zirkulation aufs strengste. Die Angst vor der Ansteckung mit unabhängigem, darum unordentlichem Wissen war allgegenwärtig; Erreger von Wissen waren fast so gefährlich wie solche eines Glaubens, der seine Anhänger nach dem Jenseits süchtig machte und vom Diesseits entpflichtete. Mit den Holländern war ein rationierter Verkehr möglich, weil sie sich auf greifbaren Profit beschränkten. Mit ihrer Ware, ihrem Wissen bedienten sie nichts weiter als Gier und Neugier; das eine durfte man geringschätzen, das andere ließ sich im Zaum halten. Rußland aber war noch eine unbekannte Größe. Riesenhaft, dabei nicht einmal fähig, das Wissen, das es besaß oder geborgt hatte, auf ordentliches Papier zu drucken oder seinen Untertanen eine einheitliche Tracht vorzuschreiben! Die Gefangenen waren Versuchspersonen, an denen man sich eine Vorstellung bildete, wessen man sich von Rußland zu versehen habe. Sein Gesandter Resanow hatte – außer einzelne Kaufleute, denen
jeder
Gewinn recht ist – keinen Japanesen davon überzeugt, daß man um diesen Handel nicht herumkomme; Chwostow hatte bewiesen, daß man sich vielmehr vor ihm hüten mußte. Jetzt hatte man russische Gefangene gemacht – herzlich ungern, eigentlich waren sie nur eine Last.
    Aber nun waren sie einmal da. Als Menschen fremder Lebensart waren sie nicht zu verachten, und da von dieser kleinen Quelle keine Überschwemmung zu befürchten war, ließ man sich vertrauensvoll davor nieder, probierte das Wasser, studierte seine Zusammensetzung. Eine unbekannte Spezies war hier gewissermaßen in Reinkultur zu besichtigen, und ihre Erforscher waren bemüht, den Russen die ihnen gewohnten Lebensbedingungen zu bieten, damit sie auch ihr natürliches Verhalten zeigen konnten; die Rolle, die sie in japanesischen Augen spielten, blieb sensationell genug: sie waren ja, was Japanesen nie

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