Loewinnenherz
Und so sehe ich ihn jeden Tag. Am schlimmsten sind die Pausen, die ich immer mit ihm verbracht habe, und traurig ist es, von nun an allein auf meinen Bus zu warten. Ich gebe mir alle Mühe, mir selbst einzureden, dass meine Mutter bestimmt nur das Beste für mich will und Udo nicht der Richtige für mich ist. Alles andere versuche ich aus meinen Gedanken auszusperren. All die Ängste und Befürchtungen, die mich beschleichen, wenn ich Refik ansehe. Wie am allerersten Tag ist es vor allem sein Blick, der mir Angst macht. Ich bin es gewohnt, mit Blicken in meine Schranken gewiesen zu werden, meine Mutter ist darin eine Meisterin. Auch Refik scheint die Technik zu beherrschen, mich durch bloßes Anstarren einzuschüchtern.
Die Tage rasen viel zu schnell dahin. Das Datum unserer standesamtlichen Trauung rückt bedrohlich näher. Und dann geschieht etwas Unfassbares, etwas, das meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen scheint.
Es ist an einem schönen Samstag, wir sitzen im Garten und grillen. Mein Vater hat wieder einmal ein paar Antiquitäten verkauft, und so hat meine Mutter ein Lamm geschlachtet, wie wir es jeden Monat mindestens einmal tun.
„Nur noch zwei Wochen“, flüstert mir Gülay, meine Schwägerin, kichernd ins Ohr, als sie in der Küche an mir vorbeiläuft. Wir sind wie Schwestern, und doch wage ich es nicht, ihr anzuvertrauen, wie es tatsächlich in mir aussieht. Auch sie glaubt, ich sei die glückliche junge Braut, als die ich versuche zu erscheinen. Tatsächlich krampft sich mein Magen zusammen, als mir ein Blick auf den Kalender zeigt, wie recht sie hat.
|60| „Umso besser“, denke ich trotzig, „je schneller wir verheiratet sind, desto eher kann ich die Scheidung einreichen.“
Das Grillen ist wie immer: die Männer essen, die Frauen bedienen. Und am Ende räumen meine Schwägerin und ich alle Reste ab und spülen das Geschirr. So ist das, so war es, und so wird es sein bis in alle Ewigkeit. Da höre ich meine Mutter meinen Namen rufen. Gehorsam laufe ich in den Garten.
„Und jetzt geht ihr beiden Verlobten miteinander spazieren“, sagt sie feierlich und grinst von einem Ohr zum anderen.
Eigentlich habe ich keine Lust, aber natürlich stimme ich zu. Es ist eine Abwechslung für mich, im nahe gelegenen Park, dem Marienberg, spazieren gehen zu dürfen. Als Kind hatte mich mein Vater oft in diesen Park mitgenommen. Später dann gehörte der Park zu den Orten, die ich nicht mehr besuchen durfte. Ich ziehe mich um, und wir verlassen den Garten. Inzwischen ist es in Nürnberg richtig Frühling geworden und alles riecht nach Wachstum und neuem Leben. Mir wird leichter ums Herz, als wir die vertrauten Straßen hinter uns lassen und ich endlich einmal wieder etwas anderes zu sehen bekomme als mein Zuhause und die Wege zur Arbeit und zum Einkaufen.
Ich gehe neben Refik her, aber nur mein Körper ist hier bei ihm. Mit meinen Gedanken bin ich schon wieder in meiner anderen Welt, in der die Anwältin gerade ihren Urlaub plant. Sie wird dieses Jahr nach New York reisen, um sich auf einem Kongress über internationales Recht mit Kollegen zu treffen. Ich habe keine Ahnung, wie es in New York aussieht, alles was ich darüber weiß, habe ich aus Zeitschriften, die meine Kollegen in der Toilette liegen lassen. Es tut gut, meine Beine zu bewegen, und als wir im Park ankommen, betrachte ich voller Neugier die Menschen um mich herum. Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr in einem Park, und es ist ein ganz neues Gefühl für mich, hier einfach so herumzuspazieren, als sei es das Normalste auf der Welt. Für mich ist es das nicht, für mich ist dieser Spaziergang ein ganz besonderes Ereignis.
|61| „Vielleicht ist das Eheleben ja doch nicht so übel“, denke ich, „als verheiratete Frau hat man viel mehr Freiheiten, als als junges Mädchen.“
Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, eine Strafgefangene auf Freigang zu sein, die ganz genau weiß, dass dieser Ausflug bald endet, und sie ihr Gefängnis danach als noch bedrückender empfinden wird. Und was hatte ich verbrochen? Dass ich als Mädchen geboren wurde und nicht als Mann.
„Weißt du, Şengül, ich finde dich ganz toll“, sagt Refik auf einmal neben mir, und reißt mich aus meinen Gedanken. „Du bist meine Traumfrau. Und ich kann es kaum abwarten, dich zu heiraten.“
Was soll ich darauf antworten? Dass er mein Albtraum ist, und ich mich davor fürchte, seine Frau zu werden? Ich schweige lieber und betrachte die Menschen um uns herum.
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