Loewinnenherz
meinen Vater prahlen. „Es ist keine leichte Sache“, sagt er, „hier in Deutschland eine Familie zu beschützen. Aber glaub mir, es gibt genügend Männer, die meine Fäuste schon zu spüren bekommen haben. Einer hätte fast meinen jüngsten Sohn umgebracht. Heute kann er nicht mehr arbeiten gehen, so hab ich es ihm zurückgegeben. Keinen geraden Schritt kann der mehr machen.“
Mein Vater lacht stolz. Mit Grausen denke ich an jenen Tag zurück, als er Ugur zum Krüppel schlug. Muss das wirklich sein, denke ich zum ersten Mal und betrachte Refik eingehend. Ob er wohl auch eine so gewalttätige Ader hat? Ich habe ja keine Ahnung, wie bald ich das herausfinden werde!
In dieser Nacht schlafe ich kaum. Ich persönlich musste Refik ein Gästebett im Wohnzimmer meines großen Bruders und seiner Familie, die im Erdgeschoss des Hauses wohnten, richten. Nachdem ich mich in mein Zimmer zurückgezogen habe, kommt meine Mutter herein.
„Und?“, fragt sie gespannt. „Wie gefällt er dir?“
Was soll ich sagen? Wenn ich ihr ehrlich anvertraue, was ich denke, wird sie toben und schreien und mich womöglich schlagen. Also sehe ich sie nur aus traurigen Augen an und sage lieber nichts. Mein Schweigen ist ohnehin beredt genug. Hat sie nicht auch gemerkt, dass ich ihn nicht will? Konnte nicht jeder im Raum das sehen? Ich fühle mich ausgelaugt, als hätte ich an diesem Tag viele Stunden lang hart gearbeitet. Die Spannung, unter der ich die ganze Zeit stand, löst sich langsam wieder und übrig bleibt pure Resignation.
Als meine Mutter endlich einsieht, dass sie keine Antwort von mir bekommt, stöhnt sie laut auf, so als sei sie diejenige, |53| die zu einer Ehe gezwungen wird, die sie nicht will. Und mir wird in diesem Moment überdeutlich bewusst, dass sie es nicht erwarten kann, mich endlich loszuwerden, diese Tochter, die ihr vom Tag ihrer Geburt an bis heute nichts als Kummer und Sorgen bereitet hat.
Als sie endlich geht, atme ich tief durch. Meine Gedanken tasten sich ihren Weg in mein Traumland, so als müssten sie nachspüren, was die Anwältin gerade tut. Ach so, sie trifft sich heute Abend mit Freunden. Ich lächle. Und hole das Buch, das ich gerade heimlich lese, aus seinem Versteck. Es ist „Nicht ohne meine Tochter“ von Betty Mahmoody, und in der Verzweiflung und Leidenschaft dieser Frau, ihrem Schicksal und dem Mut, mit dem sie den Ungerechtigkeiten begegnet, erkenne ich mein eigenes Los wieder. Bücher sind für mich ein Tor zu der Welt da draußen, ohne sie hätte ich nicht die geringste Ahnung vom Leben. Und sie verhelfen mir zu den kleinen aber lebensnotwendigen Fluchten, ohne die ich das Leben in meiner Familie nicht ertragen könnte. So wie auch an diesem denkwürdigen und schicksalhaften Abend, an dem ich den Mann kennenlernte, der mein Leben für immer verändern sollte.
Ein Parkspaziergang mit Folgen
Am nächsten Tag mache ich mit Udo Schluss.
„Ich muss heiraten“, sage ich, „mit uns ist es nun vorbei.“
Er starrt mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
„Was sagst du?“
„Ich muss heiraten.“ „Ja aber wen denn?“
„Jemanden, den meine Eltern für mich ausgesucht haben. Gestern kam er aus der Türkei.“
Udo sieht aus, als hätte ihm jemand mit einer Keule über den Kopf geschlagen. Er hat sichtlich Mühe zu begreifen, was er da eben gehört hat.
|54| „Das ist unmöglich“, sagt er schließlich, „ich liebe dich. Wenn du unbedingt heiraten willst, dann mich.“
„Nein“, sage ich, „du verstehst das nicht. Ich will gar nicht heiraten. Aber meine Eltern haben es beschlossen, und darum muss es so sein.“
Er sieht mich an, als würde ich Chinesisch sprechen.
„Aber wir leben doch nicht im Mittelalter“, bricht es nach einer Weile empört aus ihm heraus. „Und auch nicht in Anatolien. Wir leben in Deutschland. Und hier musst du keinen heiraten, den du nicht willst.“
Ich trete von einem Bein auf das andere. Wie sehr ich dieses Gespräch hasse. Mir war klar gewesen, dass es nicht einfach sein würde, Udo die Sache zu erklären. Also hatte ich gedacht, ich mache es kurz und sage ihm einfach, wie die Dinge stehen. Dass es dadurch umso schmerzhafter für Udo sein würde, das begriff ich erst jetzt.
„Du irrst dich, Udo“, sage ich traurig, „ich lebe in Anatolien. Mitten in Deutschland lebe ich in Anatolien. Meine Familie ist Anatolien. Verstehst du? Ich habe einfach keine andere Wahl.“
„Aber“, ruft er, und langsam wird er zornig, „ich lasse das
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