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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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das schrecklich, hatte aber kaum eine Möglichkeit, ihm auszuweichen. Um mir das Zusammensein mit ihm schmackhaft zu machen, erlaubte mir meine Mutter auf einmal |57| Dinge, die früher nie infrage gekommen waren. Mit ihm an meiner Seite durfte ich sogar unser Grundstück verlassen, was für mich eine Sensation war.

    Rund einen Monat ist Refik nun schon hier, als mich meine Mutter nach der Arbeit zu Hause abpasst und zur Seite nimmt.
    „Şengül, wann stellst du endlich den Antrag?“
    Ich tue so, als wüsste ich nicht, wovon sie spricht.
    „Welchen Antrag?“
    „Na beim Konsulat. Du solltest jetzt endlich den Antrag für eure standesamtliche Trauung stellen.“
    „Ach, das meinst du“, antworte ich patzig, „keine Ahnung. Im Moment kann ich keinen Urlaub bekommen. Mal schauen.“
    Die Stimme meiner Mutter wird lauter. Drohend macht sie einen Schritt auf mich zu.
    „Du weißt ganz genau, dass Refik nur drei Monate als Tourist hierbleiben kann. Dann muss er wieder zurück. Ich warne dich, lass keine Schande über deine Familie kommen. Ich will nicht in Erklärungsnöte gegenüber meinen Verwandten geraten. Und glaube mir,
du
willst das auch nicht.“
    Es ist immer dasselbe: Wenn sie so mit mir spricht, beginnen meine Beine zu zittern, und die Luft bleibt mir weg. Ich habe Angst vor ihr, seit ich ein kleines Mädchen war, und sie mich aus dem Krankenhaus geholt hat. Mein halbwegs selbstbewusstes Auftreten ist dahin. Ich nicke.
    „Ist gut“, sage ich, „ich werde mich bald darum kümmern.“
    Meine Mutter tritt noch einen Schritt näher an mich heran. Ich kann den süßlichen Duft ihres Shampoos riechen.
    „Und nicht nur das“, fügt sie leise hinzu. „Kümmere dich auch um ihn. Unterhalte dich mit ihm. So kannst Du ihn kennenlernen. Glaub mir, er ist gut für dich.“
    Ich gehe in mein Zimmer und lege mich aufs Bett. Jetzt ist es also soweit, denke ich. Was kann ich tun, um dem Ganzen zu entgehen? Mir fällt kein Ausweg ein. Ich könnte mich selbst töten, denke ich. Doch ich fühle ganz deutlich mein junges Leben |58| in mir, so viele Hoffnungen, so viele Erfahrungen, die ich noch machen möchte. Ich bin noch nicht bereit zu sterben.
    Und dann beschließe ich, den einzigen Plan zu verfolgen, den ich habe. Ich werde gute Miene zum bösen Spiel machen. Ich werde allen vorspielen, wie glücklich ich bin, diesen Mann zu heiraten. Ich werde sie alle in Sicherheit wiegen. Ich werde Refik zum Mann nehmen. Und dann werde ich mich so schnell wie möglich scheiden lassen.
    Am Tag darauf bitte ich um zwei Tage Urlaub für die darauffolgende Woche, um meine eigene Katastrophe in die Wege zu leiten.
    „Fährst du weg?“, fragt eine Kollegin.
    „Nein“, sage ich, „ich habe etwas zu erledigen.“
    Dann verabschiede ich mich rasch, damit sie nicht noch weitere Fragen stellt.

    Es ist der 26. Mai 1992, ein strahlender Dienstag, als ich mit Refik zum Konsulat gehe. Hier stellen wir gemeinsam den Antrag auf Eheschließung. Die standesamtliche Trauung wird für auf den Tag genau vier Wochen später festgesetzt. Ich wundere mich, wie einfach das alles geht. Wir ziehen eine Nummer und werden wie am Fließband abgefertigt. Keiner fragt mich, ob ich diesen Mann tatsächlich heiraten möchte. Keiner will wissen, ob ich glücklich bin. Ich komme mir vor, als würde ich einen Teppich kaufen, den ich eigentlich gar nicht will.
    Auf dem Heimweg sagt Refik zu mir: „Bald gehörst du mir.“
    Und während ich eine Grimasse ziehe, die er als Lächeln deutet, denke ich, dass ich mich schon wieder täusche: Ich bin der Teppich, den Refik soeben erstanden hat. Doch das Wichtigste ist, denke ich, dass sich alle in Sicherheit wiegen, dass alle denken, ich sei tatsächlich glücklich, und dass sie nicht auf die Idee kommen, dass ich schon lange vor der Hochzeit die Scheidung geplant habe.
    Und so sage ich zu meiner Mutter: „Alles lief bestens!“, und lächele, als sei ich überglücklich. Von nun an spiele ich die Şengül, |59| die meine Familie von mir erwartet: fröhlich, voller Erwartungen auf die Hochzeit und ansonsten schweigsam und gehorsam.
    Aber ich bin nicht glücklich. Ich versuche es mir selbst einzureden, aber es gelingt mir nicht immer. Vor allem während ich arbeite, bin ich bedrückt und voller böser Vorahnung. Meine Kollegen lassen mir keine Ruhe. Udo geht mir aus dem Weg, so gut er kann. Aber es ist seine Aufgabe, mir die Stifte zu bringen, die ich kontrollieren muss, und die bereits geprüften wieder abzuholen.

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