Loewinnenherz
jungen Frau, die diese Zeilen lesen und aktuell mit solchen Gedanken spielen, möchte ich dringend sagen: Es ist keine Lösung, die von außen erlebte Gewalt gegen sich selbst zu richten, auch wenn es oft so erscheint, als gebe es keinen anderen Ausweg. Heute weiß ich: Es gibt immer einen Ausweg. Und ich weiß inzwischen auch, dass ich mir Hilfe von außen hätte holen können, wenn ich nur gewusst hätte, wie und woher.
Auch wenn es uns jungen Türkinnen so vorkommt, als lebten wir auf einer anatolischen Insel, wir sind doch mitten in Deutschland. Als ich in dieser Situation war, vor fünfzehn bis zwanzig Jahren, da waren die Themen Zwangsverheiratung und Ehrenmord noch wenig bekannt in Deutschland. Heute gibt es viele Möglichkeiten, sich gegen die eigene Familie zur Wehr zu setzen, ohne Ehre und Leben zu verlieren. Im Anhang nenne ich einige Institutionen, an die sich jede Frau wenden kann, die in einer solchen Situation lebt und Hilfe von außen benötigt.
|191| Nach meiner Erfahrung sind arrangierte Ehen fast immer zum Scheitern verurteilt. Es werden zwei Menschen nur deshalb zusammengeführt, weil es den Interessen anderer nützt und die Ehepartner selbst werden behandelt wie Waren, die man beliebig verschieben kann. Nach einer Zwangsheirat wird erwartet, dass produziert wird – und zwar Kinder. Was innerhalb der eigenen vier Wände passiert, davon erfährt nicht einmal die eigene Familie etwas. Und wenn doch einmal etwas durchdringt, dann wird es totgeschwiegen. Alle verschließen die Augen und warten – ob bewusst oder unbewusst – auf den großen Knall. Ich möchte allen Frauen, die sich in solch schwierigen und oftmals menschenverachtenden Umständen befinden, raten, sofort und ohne Wenn und Aber auszubrechen, vor allem, wenn sie Kinder haben. Die leiden unendlich. Ich bereue heute jeden einzelnen Tag, den ich bei meinem ersten Ehemann ausgeharrt habe. Niemals hätte ich zulassen dürfen, dass meine Tochter von ihrem Vater so grausam misshandelt wird. Noch heute leide ich sehr darunter, dass ich nicht stark genug war, diese Situation früher zu beenden. Ich würde alles dafür geben, die Zeit zurückdrehen zu können. Aber ich war jung und unerfahren, ich war so ängstlich und hatte ungeheure Furcht davor, meine Familie zu verlieren – und dennoch: Nichts ist wichtiger als das eigene Kind. Jedes Mal, wenn ich meine Tochter ansehe, denke ich: „Hätte ich es damals geschafft, rechtzeitig zu gehen, wäre sie heute mit Sicherheit nicht behindert.“ Mein Herz blutet, wenn die Bilder vor meinen Augen hochsteigen, wie ihr Vater sie im Kinderzimmer verprügelte und ich ihr nicht helfen konnte. Und ich möchte alle Mütter, die in einer ähnlichen Lage sind, beschwören: Lasst es nicht zu, denkt an Eure Kinder, die es besser haben sollen, geht – geht solange Ihr noch könnt.
Heute weiß ich, noch einmal würde mir so etwas nicht passieren. Ein Mann, der sein Kind bis zur Besinnungslosigkeit prügelt, gehört hinter Gitter. Jeder sogenannte Vater, der sich derart barbarisch aufführt, muss angezeigt und verurteilt werden. Viele Frauen nähren in ihrer Verzweiflung die Hoffnung, dass sich eines |192| Tages etwas ändert, dass der Mann ein Einsehen haben wird oder ein Wunder geschehen könnte. Aber solch ein Wunder gibt es nicht. Nichts wird sich ändern, wenn wir Frauen nicht etwas ändern. Auch ich dachte fünf Jahre lang, dass eines Tages alles besser würde. Heute weiß ich: Das war eine Illusion, eine Ausrede, um selbst nichts unternehmen zu müssen. Und mögen wir Frauen auch vielleicht die Schläge ertragen – für unsere Kinder ist jeder Tag voller Brutalität eine Minuslast auf ihrem Lebensglück, eine nicht wiedergutzumachende Attacke auf ihre Gesundheit, ob physisch oder psychisch. Solche Narben, in frühester Kindheit geschlagen, verheilen niemals. Und es ist unsere Pflicht als Mütter, unsere Kinder vor Gewalt zu schützen, egal, wer sie ausübt, selbst wenn es der eigene Ehemann ist.
Eine Kultur, die auf Gewalt setzt und ihren Untergang befürchtet, wenn Frauen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben erheben, ist weder zeitgemäß noch passt sie in das herrschende deutsche Wertesystem. Die in unserem Grundgesetz festgeschriebenen Menschenrechte fordern ausdrücklich eine Gleichheit der Geschlechter und die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen. Daran kann man auch nicht mit Argumenten rütteln wie: „Wir wollen aber unsere angestammte Tradition nicht aufgeben.“ Hier geht es nicht
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