Loewinnenherz
Herzerkrankung meiner Mutter. Zunächst waren ich und meine Brüder sogar skeptisch gewesen, ob es auch wirklich so dramatisch war, wie es am Telefon klang. Meine Mutter war Zeit ihres Lebens kerngesund gewesen, hatte aber immer wieder Ärzte und Krankenschwestern mit ihren eingebildeten Beschwerden fast in den Wahnsinn getrieben – und uns |188| ebenso. Doch dieses Mal stand es tatsächlich ernst um sie. Und so kam es, dass meine Eltern mich um Verzeihung baten für alles, was in der Vergangenheit geschehen war.
Und ich verzieh ihnen gerne. Ich glaube fest daran, dass es uns besser geht, wenn wir Frieden miteinander schließen, statt uns zu bekriegen, wenn wir uns lieben, statt uns zu quälen. Ich habe in den vergangenen Wochen und Monaten, in denen meine Mutter glücklicherweise ihre Herzoperation gut überstanden hat und auf dem Weg der Genesung ist, wohltuende Gespräche mit ihr geführt und viele Dinge zu hören bekommen, von denen ich mir nicht mehr hätte träumen lassen, dass sie je ausgesprochen werden würden.
Und es erfüllt mich mit Glück und Stolz, dass meine Eltern endlich erkennen, wer ich wirklich bin. Dass sie begreifen, worum es mir schon immer ging: dass ich mein Leben so führen darf, wie ich es mir vorstelle und wünsche. Meine Mutter kann endlich meine Leistungen anerkennen. Meine Eltern haben mir inzwischen versichert, dass sie heute nicht mehr so handeln würden wie damals, als sie mich zwangen, diesen schrecklichen Menschen zu heiraten.
„Wir waren dumm und ungebildet“, sagte meine Mutter, „und haben vieles falsch gemacht. Aber heute weiß ich, dass du eine gute Tochter bist, obwohl wir dich so schlecht behandelt haben. Wir haben umgedacht und sehen heute, dass wir im Unrecht waren.“
Auch sie haben dazugelernt. Mein größter Wunsch ist, dass auch andere dazulernen und ihren Töchtern von Anfang an mit Liebe begegnen, anstatt sie zu unterdrücken.
|189| 3 Was Deutschland dringend braucht
Das Schweigen brechen
„Ich habe keine besondere Begabung, sondern ich bin leidenschaftlich neugierig.“
Albert Einstein
A ls Gott den Menschen erschuf, dachte er an jedes noch so kleine Detail. Jedes Organ hat seine Aufgabe, so auch unser Gehirn, das uns die Fähigkeit gibt, das Unmögliche möglich zu machen. Mit Sicherheit hätte Gott uns diese Gabe nicht geschenkt, wenn er gewollt hätte, dass wir irgendwo stehen bleiben und uns nicht weiterentwickeln. Also sollten wir diese Chance nutzen – und zwar im besten Sinne.
Wonach ich mich in meiner Kindheit und Jugend am meisten gesehnt habe, war Freiheit. Damit meine ich nicht all das, wovor meine Mutter sich so sehr fürchtete: sexuelle Freizügigkeit und ein Laisser-faire um jeden Preis. Ich meine damit die Freiheit, mich entwickeln zu können, lernen zu dürfen und meine Neugierde zu befriedigen. Die Freiheit, sich entfalten zu können ist für Mädchen und Jungen gleichermaßen wichtig. Dennoch gibt es nach wie vor sehr viele Mädchen, die mitten in Deutschland aufwachsen und von ihren Familien unterdrückt werden. Diese Mädchen werden in ihrer Entwicklung gehemmt und in ihrer Freiheit beschnitten. Es reicht nicht, wenn diese Mädchen zwar ein Gymnasium besuchen und besser in die Berufswelt integriert werden können, aber in ihrem privaten Bereich daran gehindert werden, den familiären Kreis zu verlassen, sich mit Freunden und Freundinnen zu treffen und so die Welt kennenzulernen.
|190| Nicht nur mir wurde als Heranwachsende regelrecht alles verboten und jede Freiheit genommen. Mein Schicksal ist nur eines unter zahllosen türkischer Frauen in Deutschland. Gefährlich wird es für ein Mädchen, wenn es mit seiner Intelligenz so weit vorangeschritten ist, dass es anfängt, sich gegen die Eingrenzungen und den Entzug grundsätzlicher Freiheiten zu wehren. Tatsächlich sind die meisten Opfer von sogenannten „Ehrenmorden“ besonders intelligente Mädchen, die eine Ahnung davon haben, wie das Leben sein könnte, wenn sie nur dürften, wie sie wollten.
Oftmals nehmen sich junge Frauen aus Verzweiflung selbst das Leben. Tragischerweise gelten diese Unglücklichen auch noch als Selbstmörderinnen, und ihr Tod wird nicht mit einem Ehrenmord in Zusammenhang gebracht. Ich habe selbst viele Jahr lang immer wieder mit dem Gedanken gespielt, mir das Leben zu nehmen, wenn meine Situation zu unerträglich wurde. Manchmal war es allein meine Tochter, die mich davon abhielt, solche Überlegungen in die Tat umzusetzen. Jedem Mädchen und jeder
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