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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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um kulturelle Werte, sondern um den Machterhalt einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft, die dem Mann sogar das Recht über Leben und Tod seiner weiblichen Verwandten zuspricht. Was wie Stärke wirken soll, dahinter verbergen sich Unsicherheit und Schwäche. Das Einzige, was ich meinem ersten Mann mildernd zusprechen kann ist, dass er ein unendlich schwacher Mensch war – natürlich nicht körperlich, aber geistig und mental. Denn nur derjenige glaubt zuschlagen zu müssen, dem die Argumente ausgehen, der sich nicht mit Worten ausdrücken und durchsetzen kann oder will.
    So betrachtet sind gerade die Frauen, die unter häuslicher Gewalt zu leiden haben, meistens sehr starke Persönlichkeiten. Das Problem ist nur, sie erkennen ihre eigene Stärke häufig |193| nicht, weil sie noch nicht herausgefunden haben, was sie der körperlichen Überlegenheit ihrer Männer oder männlichen Verwandten entgegensetzen können. Und auch hier möchte ich alle, die in so einer Situation stecken, ermutigen, sich ihrer Stärken bewusst zu werden und sie auszubauen. Nicht mehr zu schweigen, sondern sich auszutauschen, Fragen zu stellen, sich zu wehren. Und den Weg aus dem Ehegefängnis heraus gemeinsam mit anderen zu suchen und zu finden.

    Auch wer zusieht, ohne zu helfen, macht sich schuldig. Es ist keine Tugend, schweigend darüber hinwegzusehen, wenn Frauen oder Kinder Spuren häuslicher Gewalt tragen. Es ist nicht höflich, wegzuhören, wenn in der Nachbarschaft regelmäßig Schreie ertönen und die eindeutigen Geräusche, die anzeigen, dass jemand verprügelt wird. Ich mische mich heute ein, wenn ich Zeugin von Gewalt werde. Neulich kam ich dazu, wie ein türkischer Vater auf offener Straße seinen vielleicht zweijährigen Sohn im Kinderwagen schlug, während seine Frau mit einem zweiten Kind an der Hand dabeistand. Ich hielt seine Hand fest, als er erneut ausholte.
    „Warum schlägst du dein Kind?“, fragte ich ihn.
    Um uns herum gafften die Passanten, aber keiner sagte ein Wort.
    „Halt dich da raus“, sagte der Mann, „das geht dich nichts an.“
    „Ich halte mich aber nicht raus“, entgegnete ich, „ein Kind musst du nicht schlagen. Siehst du nicht, wie alle dich angaffen? Schämst du dich nicht? Ein Kind kann jeder schlagen, das ist keine Kunst. Wenn du nicht aufhörst, ruf ich die Polizei.“
    Ich zückte mein Handy, woraufhin die Familie eilig davonging. Vielleicht haben meine Worte diesem Mann ja zu denken gegeben? Denn wenn nie jemand Klartext zu reden wagt, wie soll sich dann jemals etwas ändern?
    Ein anderes Mal, als ich gerade hochschwanger war mit Deniz, kam ich gerade dazu, wie vor einer Apotheke ein Türke seine Freundin schlug. Wieder ging ich hin und forderte den Mann auf, sofort aufzuhören. Und immer ist es das gleiche Lied:
    |194| „Misch dich nicht ein, das geht dich nichts an.“
    „Ich mische mich aber ein“, entgegnete ich. „Hör sofort auf oder ich ruf die Polizei.“
    Und was tat die junge Frau? Sie ging mit dem Mann, der sie schlägt, auf und davon und verschwand mit ihm im Park. Ich sah ihr traurig nach und musste mir eingestehen: Früher hätte ich mich ganz genauso verhalten.
    Oft werde ich aber auch angerufen, weil eine geschlagene Frau um Hilfe bittet. Es ist eine Selbstverständlichkeit für mich, diesen Frauen dann beizustehen, mit ihnen Lösungen zu finden, sie herauszuholen aus so einem Leben, wenn sie es wünschen. In der Verzweiflung dieser Frauen erkenne ich mich selbst wieder: immer am Weinen, nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, mit den Nerven am Ende. Wir Frauen müssen zusammenhalten, einander helfen, uns gegenseitig beraten – wenn wir es nicht schaffen, wer sollte es sonst tun?

    Leider hinkt die Realität dem Anspruch der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen auch in Deutschland allzu oft noch hinterher. Das zeigt sich auch im Umgang von Behörden mit Frauen, die häusliche Gewalt erleiden, der oftmals beschämend ist. Nicht selten gehen Ehemänner, die Frau und Kinder brutal prügeln, straffrei aus. Der Umgangston ist häufig so rüde, dass ich einem Polizeibeamten schon einmal sagen musste: „Diese Frau wurde neun Jahre lang immer wieder misshandelt. Jetzt gehen Sie doch mal ein bisschen feinfühliger mit ihr um!“
    Doch die größte Hürde einer Frau, die in ihrer Ehe Gewalt erfährt, ist sie selbst: Die langen Jahre, in denen sie ihren Ehemann deckt, nicht glauben will, dass es immer so weiter gehen wird oder sich einfach nicht

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