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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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hoch.

    In der Uni-Sprechstunde war alles wie in einem Traum: Meine Zugangsvoraussetzungen genügten, und ich erhielt eine schriftliche Zusage, dass ich die Möglichkeit habe, Jura zu studieren. Schwarz auf Weiß. Als ich mich wieder in mein Auto setzte und nach Hause fahren wollte, überfiel mich völlig unvermittelt ein Weinkrampf, sodass ich anhalten musste. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen, und immer wieder dankte ich Gott und sagte mir: „Şengül, du hast es geschafft. Mit Gottes Hilfe hast du das tatsächlich erreicht.“
    So viele Jahre hatte ich davon geträumt, war davon überzeugt gewesen, dass es mir immer verwehrt bleiben würde. Und jetzt war es in den Bereich des Möglichen gerückt. Jetzt hing es nur noch von mir selbst ab, ob ich diese Möglichkeit ergreifen würde oder nicht. Niemand hinderte mich mehr daran, niemand |186| stand mir im Weg. Ich starrte aus dem Autofenster und es war mir, als sähe ich mich selbst, damals vor dreizehn Jahren, mit einer Platzwunde am Kopf und einem Nasenbeinbruch vorübergehen, eingeschüchtert, verbittert und verzweifelt. Jetzt aber hatte ich meinen Universitätszugang in der Tasche. Und mir wurde klar: Alles, was früher nicht einmal denkbar gewesen wäre, war nun möglich.
    „Alles ist möglich“, sagte ich mir unter Tränen, „wenn man nur wirklich will.“
    Dann startete ich den Wagen und fuhr nach Hause zu meinen Lieben.
    „Zuerst mache ich die Steuerberaterprüfung“, sagte ich zu Attila. „Und sobald ich eine Kanzlei aufgebaut habe mit genügend guten Mitarbeitern, dann studiere ich Jura. Und dann …“
    „… wirst du Anwältin, mein Schatz“, vollendete Attila meinen Satz und nahm mich in seine Arme.
    „Und dann“, fuhr ich fort, „wenn ich meine Prüfung zur Steuerberaterin bestanden habe, werde ich in meiner Kanzlei gemeinsam mit einem Anwalt eine Sozietät gründen. Dann kann ich, wenn ich mein Jurastudium absolviert habe, die Referendarszeit in meiner eigenen Kanzlei machen.“
    „Das ist eine ausgezeichnete Idee“, fand auch Attila, „ich bin sicher, dass du das schaffen wirst.“

    Oft werde ich gefragt, warum mir nicht reicht, was ich weiß, warum ich immer noch dazulernen möchte. Ich antworte dann, dass ich es liebe, zu lernen und neue Dinge zu erfahren. Außerdem habe ich mit zwölf Jahren erkannt, dass Wissen Macht bedeutet. Jene Anwältin schaffte es mit der Autorität ihres Wissens Männern wie meinem Vater und allen anderen im Gerichtssaal Respekt einzuflößen. Und auch wenn ich zu viele Jahre ohnmächtig gewesen bin, wusste ich doch die ganze Zeit über, wie selbst eine körperlich schwache, kranke Frau sich Macht und Respekt erwerben kann: durch die Aneignung von Wissen. Dabei geht es mir nicht darum, mehr zu wissen als andere. Ich will |187| mehr wissen
für
mich und andere, denn je mehr ein Mensch weiß, desto reicher ist er.

    Selbst meine Eltern haben das inzwischen begriffen. Ich hatte sie nicht zu unserer Hochzeit, die eine Traumfeier war, eingeladen, da ich zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mit ihnen hatte und mir auch nicht vorstellen konnte, jemals wieder etwas mit ihnen zu tun zu haben. Zwei Jahre zuvor war es zu einem Eklat gekommen. Meine Mutter schrie damals ins Telefon, ich sei die größte Schlampe überhaupt und außerdem für den Tod eines Menschen verantwortlich. Das war der Moment, in dem ich einfach nicht mehr konnte. „Es reicht!“, schrie ich ins Telefon und legte auf. Es ging nicht anders, ich musste den Kontakt zu meinen Eltern komplett abbrechen. Ich konnte mir nicht länger ihre Demütigungen anhören. Und auch dabei war ich sehr konsequent: Ich änderte auf der Stelle alle meine Telefonnummern, sodass mich meine Eltern nicht mehr erreichen konnten.
    Diese Funkstille hat ihnen offenbar gutgetan. Meine Eltern hatten Zeit zum Nachdenken, Zeit, herauszufinden, wie es ist, wenn sich die eigenen Kinder von ihnen abwenden. Und das führte zu einer Wandlung.
    Ich glaube, die Veränderung kam langsam. Meine Eltern zogen sich in ihr über Jahrzehnte hinweg gebautes Traumhaus in der anatolischen Heimat zurück, nur um festzustellen, dass sie völlig vereinsamt waren. Der problematische Charakter meiner Mutter hatte sie nach und nach mit der gesamten Familie entzweit. Nachbarn beneideten sie zwar um ihr schlossähnliches Anwesen, doch zu Besuch kam keiner. Und meine Eltern mussten auf ihre alten Tage erkennen, dass Bewunderung allein nicht glücklich macht. Hinzu kam die schwere

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