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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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Freiberuflerin aufzumachen. Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, ging alles ganz schnell. Ich sehe mich, wie ich den Kinderwagen mit Deniz vom Park nach Hause schob, als ich direkt um die Ecke von unserem Zuhause ein leer stehendes Büro entdeckte.
    „Das ist es“, dachte ich mir, „das wird mein neues, eigenes Büro.“
    Ganz aufgeregt notierte ich mir die Telefonnummer der Hausverwaltung, und ging nach Hause. Dann erinnerte ich mich an die Anfrage eines Lohnsteuerhilfe-Vereins, ob ich für sie als Selbständige arbeiten wollte. Noch am selben Tag stellte ich einen Business-Plan auf und rief die Hausverwaltung an. Ich handelte noch rasch die Miete etwas herunter, das hatte ich ja in meinem Beruf inzwischen gut gelernt. Meine Unzufriedenheit war wie weggewischt. Ich belegte Fortbildungen, um wieder auf den neuesten Stand im Steuerwesen zu kommen. Ich war dabei, wieder ins Berufsleben einzusteigen und freute mich riesig darauf.

    |183| Auf unserer Hochzeit
    Als mich Attila fragte, ob ich mich inzwischen vielleicht doch trauen würde, seine Frau zu werden, da sagte ich aus vollem Herzen: „Ja.“ Meine alten Ängste hatten keine Macht mehr über mich, Attila hatte mir lange genug bewiesen, dass seine Liebe zu mir und unseren Kindern ohne Wenn und Aber und vor allem ohne Hintergedanken ist. Und so heirateten wir im November |184| 2008 standesamtlich, und planten für den darauffolgenden Mai eine Traumhochzeit in Weiß. Schon davor, im Januar 2009, hatte sich mein beruflicher Traum erfüllt: Ein halbes Jahr nach jenem Spaziergang im Park eröffnete ich mein eigenes Steuerbüro.
    Zu diesem Ereignis tat ich etwas, worauf ich mich schon viele Jahre lang gefreut hatte: Ich kaufte mir meinen ersten grauen Hosenanzug. Inzwischen besaß ich vier verschiedene Aktentaschen. Mein Leitstern, die Anwältin, wäre sicherlich stolz auf mich, hätte sie meinen langen und steinigen Weg verfolgen können, auf dem sie so viele Jahre lang meine heimliche Mentorin und mein stiller Rettungsanker in schlimmen Situationen war. Was die zwölfjährige Şengül nicht für möglich gehalten hätte, sich aber so sehr wünschte, das war nun fast Wirklichkeit geworden. So lange waren eine Aktentasche und ein grauer Hosenanzug für mich das Sinnbild für Glück gewesen, nun besaß ich beides und ein eigenes Steuerbüro obendrein.
    Gleichzeitig begann ich meine Ausbildung zur Steuerberaterin, die eine der schwierigsten in Deutschland ist. 2012 werde ich die Prüfung ablegen. Und schon heute habe ich das Angebot, dann eine Kanzlei zu übernehmen. Wie damals in den ersten Schulklassen sitze ich nun also jeden Samstag in der ersten Reihe und nehme aktiv am Unterricht teil. Auch wenn ich die Woche über viel zu tun habe und manchmal nicht weiß, wo mir der Kopf steht, so kann ich es doch kaum erwarten, dass es Samstag wird und ich wieder zur Schule gehen darf.

    Viele Jahre hatte ich gedacht, dass ich mit meinem Hauptschulabschluss niemals ein Jurastudium aufnehmen könnte. Ich habe schließlich kein Abitur, also geht das einfach nicht, dachte ich. Bis ich herausfand, dass Berufstätige mitunter auch ohne Abitur zum Studium zugelassen werden können.
    Ich sah mich auf den Internetseiten der Uni Erlangen um und fand die passende Stelle. Dort stand, dass man einen zusätzlichen allgemeinen Universitätszugang erhalten kann – also dort |185| studieren darf –, wenn man folgende Kriterien erfülle: Man muss eine abgeschlossene Ausbildung haben, drei Jahre Berufserfahrung vorweisen und eine Weiterbildung gemacht haben. Alle drei Voraussetzungen konnte ich erfüllen!
    Als ich meinen Pulsschlag wieder unter Kontrolle hatte, rief ich bei der Universität Erlangen an und erzählte von meinem Werdegang und stellte mit zitternder Stimme jene Frage, die ich mich noch nie auszusprechen getraut hatte: „Kann ich auch Jura studieren?“
    „Wenn Sie die Voraussetzungen erfüllen, warum nicht?“, antwortete mir die nette Stimme. „Am Besten kommen Sie bei uns vorbei und bringen uns Ihre Zeugnisse mit. Dann können wir alles besprechen.“
    Also fuhr ich nach Erlangen. Als ich meinen Wagen abstellte, wurde mir bewusst, dass ich damals in den Jahren meiner Ehe hier ganz in der Nähe gewohnt hatte. Ich erkannte die Straßen wieder, und meine Gefühle begannen Achterbahn zu fahren. Einen Moment lang fühlte ich wieder die Verzweiflung von damals, als ich genau dieselben Straßen entlanggegangen war, Emotionen, die ich längst vergessen hatte, kamen wieder

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