Loewinnenherz
Heute kann ich meiner Mutter erzählen, dass ich alleine auf Geschäftsreisen gehe, viele männliche Kollegen habe, Partys besuche, ohne meinen Mann mit meinen Kindern in den Urlaub fahre. Wohl staunt sie noch immer über diese unerhörten Dinge, doch inzwischen vertraut sie mir, dass es mir nicht darum geht, mich unmoralisch zu verhalten. Sie begreift, dass in meinem Leben völlig andere Dinge zählen, als in ihrem, und kann das auch endlich akzeptieren.
So viele Jahre lang hatte ich versucht, meinen Eltern klarzumachen, dass die Welt da draußen nicht „schlimm“ ist oder „schlecht“. Dass sie sich nicht zu fürchten brauchen und vor allem mich nicht vor völlig irrationalen Gefahren bewahren müssen. |202| Ich versuchte ihnen zu zeigen, wie wunderbar dieses Land ist, in dem wir leben.
Heute möchte ich Deutschland zeigen, dass nicht alle Immigranten schlecht und dumm sind. Ich bin der lebende Beweis dafür, dass ein Mensch das, was er bis zu seinem 18. Lebensjahr an Lernen versäumt hat, durchaus noch aufholen kann. Ich habe erst mit 21 wieder begonnen zu lernen, und zwar unter schwierigsten Umständen. Aber ich hatte das große Glück, dass es Menschen gab, die mir Chancen gaben und an mich glaubten. Denn eigentlich kommt es nicht oft vor in Deutschland, dass eine Türkin mit einem einfachen Hauptschulabschluss die Chance erhält, die Aufnahmeprüfung für die Ausbildung zur Steuerfachgehilfin zu machen. Für mich war das wie ein Wunder. Das zweite Wunder war, dass ich aufgenommen wurde, obwohl ich die Zugangsvoraussetzungen nicht erfüllte, sondern die Aufnahmeprüfung vermasselte. Hier hatten Menschen offene Augen, Ohren und vor allem offene Herzen und begriffen, dass eine junge Frau vor ihnen stand, die eine Chance verdiente, auch wenn ihre Noten und Prüfungsergebnisse dagegen sprachen.
Welcher Jugendliche erhält schon so eine Chance? Während meiner Tätigkeit als Personalleiterin habe ich immer wieder erleben müssen, wie verbohrt und engstirnig Bürokraten sich gegenüber jungen Menschen verhalten, wenn sie keinen stromlinienförmigen Ausbildungsweg hinter sich haben, sondern aus den unterschiedlichsten Gründen später als üblich in einen Beruf einsteigen wollen.
Ein schönes Beispiel dafür ist meine ehemalige Putzfrau. Sie stammt aus Tschechien, und bereits nach wenigen Besuchen in unserem Haushalt wurde mir klar, dass ich es mit einer intelligenten jungen Frau zu tun hatte. Sie war immer eine äußerst gepflegte Erscheinung, und schließlich kam ich mit ihr ins Gespräch.
Martina war sechs Jahre zuvor nach Deutschland gekommen und beherrschte die Sprache perfekt. Zu Hause in Tschechien hatte sie das Abitur gemacht, was in Deutschland aber nicht |203| anerkannt wurde. In ihrer Heimat hatte sie in einem Büro im Bereich Buchhaltungswesen gearbeitet. Jetzt wollte sie gerne eine Ausbildung oder eine Umschulung machen, war aber bereits dreißig Jahre alt, und bei der Agentur für Arbeit sagte man ihr, dass man nichts für sie hätte. Sieben Monate kämpfte sie mit der Agentur für Arbeit – leider ohne Erfolg.
Ich begann, ihr kleinere Aufgaben zu übertragen und stellte fest, dass sie eine rasche Auffassungsgabe hatte. Warum, dachte ich mir, bekommt so eine aufgeweckte Frau keine Chance und muss putzen gehen?
„Okay“, sagte ich zu ihr, „du machst jetzt einen Termin mit deiner Beraterin. Und ich komme mit.“
Ich zog mir meinen grauen Hosenanzug an und bewaffnete mich mit meiner Aktentasche. So liefen wir gemeinsam bei der Agentur für Arbeit ein.
„Warum“, fragte ich nach der Begrüßung, „bekommt diese Frau keine Umschulung?“
Wieder einmal wurde ich darin bestätigt, dass ein Hosenanzug und eine Aktentasche eine fast magische Wirkung auf deutsche Bürokraten ausüben, denn Martina erhielt durch meine Anwesenheit eine ganz andere Aufmerksamkeit.
„Auf dem Arbeitsmarkt“, fuhr ich fort, „gibt es gerade deutliche Anzeichen, dass Steuerfachangestellte gebraucht werden. Warum können Sie das Potenzial nicht erkennen, das diese Frau mitbringt? Sie ist hoch motiviert und bringt mit Sicherheit bessere Ergebnisse, als so mancher, den Sie in dieses Programm stecken, der aber weder die Begabung noch die Motivation dazu hat.“
Und auf einmal war alles möglich: Martina erhielt ihre Umschulung. Inzwischen macht sie in einer Kanzlei, für die ich tätig bin, ein Praktikum. Und bereits jetzt hat sie eine schriftliche Zusage, dass sie nach Abschluss ihrer Ausbildung dort eingestellt
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