Loewinnenherz
Gemeinschaft herauszupicken, sich aber sonst nicht an die Regeln zu halten, ist schäbig.
Auch in der Türkei wurde in den letzten Jahren so manches erreicht. Und dennoch gelangen zeitweise sehr schockierende Meldungen zu uns. Es wurde berichtet, dass in den letzten sieben Jahren die Rate der Frauenmorde in der Türkei um 1400 Prozent (!) gestiegen ist. Mir verschlug es den Atem, als ich das las. Wie kann es sein, dass in einem wirtschaftlich so erfolgreichen Land wie der Türkei diese patriarchalischen Morde noch immer möglich sind und gar noch derart drastisch zunehmen? Obwohl auch in der Türkei Ehrenmorde mit lebenslanger Haft bestraft werden, lässt die dortige Gesellschaft diese Verbrechen offensichtlich weiterhin zu. Und das ist ein Skandal.
Solange türkische Familien der Meinung sind, dass sie und ihr Ehrenkodex in Deutschland außerhalb der deutschen Gesetzgebung stehen und sie mit ihren Töchtern so umspringen können, wie sie es für richtig halten, sie zu Ehen zwingen und Verstöße gegen die sogenannte Ehre mit Gewalt bis hin zu Mord quittieren, solange wird es mit der Integration nicht funktionieren.
Vielleicht wäre es hilfreich, sowohl unter den türkischen Mitbürgern in Deutschland als auch unter den Deutschen eine Umfrage zu machen mit der Frage: „Was verstehen Sie unter Integration?“ Auch eine weitere Frage an meine Landsleute wäre |200| wichtig, zu diskutieren: „Was fürchten Sie zu verlieren, wenn Sie sich in Deutschland integrieren?“
Auf diese Weise kämen endlich die verborgenen Ängste ans Licht, über die man dann diskutieren könnte. Vielleicht ließen sich auf diesem Weg tatsächlich viele dieser bislang nicht formulierten Ängste ausräumen, könnten Missverständnisse geklärt und auf beiden Seiten der Weg zu einer echten, sinnvollen Integration geebnet werden, auf dem niemand etwas verliert, sondern jeder dazugewinnt.
Jeder Mensch verdient eine Chance
„Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt!“
Albert Einstein
Es gibt einen weisen Satz, der lautet: „Veränderung beginnt bei uns selbst.“ Meine Geschichte beweist, wie richtig dies ist. Erst als ich in der Lage war, durch meine Ausbildung zu wachsen und zu reifen, mich von einem unwissenden Mädchen in eine Frau mit einem gewissen Bildungsstand zu verwandeln, gelang es mir, meine Situation zu verändern. Das war auch einer der Gründe, warum meine Eltern mit aller Macht verhinderten, dass ich als Schülerin eine gute Ausbildung genießen konnte: Sie wussten genau, dass sie mich dann nicht mehr derart hätten kontrollieren können, dass ich ihnen geistig über den Kopf gewachsen und stark genug gewesen wäre, um mich gegen sie durchzusetzen.
Heute sehen meine Eltern ein, dass sie vieles, wenn nicht alles falsch gemacht haben. Dass meine Eltern nach all den Jahren eine so wunderbare Wandlung vollziehen konnten, das schafften sie letztlich nur selbst. Dem voran ging der Kampf, den ich mit ihnen führte, meine Ablösung und das Beispiel, das ich ihnen bot. Zuerst mussten wir uns für lange Jahre vollkommen entzweien, |201| ehe wir wieder zueinanderfanden. Ich hätte es nicht zu hoffen gewagt, mir erscheint es noch immer wie ein Wunder – und doch ist es geschehen.
Während meines langen, steinigen Weges in die Selbstbestimmtheit und Freiheit blieb ich in meinen Entscheidungen fest, auch wenn ich dabei Opfer bringen musste. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen gegen diese patriarchalischen Denkweisen. Ich setze meinen Willen durch gegen massiven Widerstand und Druck und war am Ende erfolgreich. Und so kam es, dass meine Familie anfing, endlich nachzudenken.
Ich bin mir inzwischen sicher, dass meine Mutter heute anders handeln würde als damals. Durch mich hat sie gelernt, dass nicht alles, was sie nicht kennt, automatisch schlecht sein muss. Sie sieht inzwischen an meinem Beispiel, dass eine Frau beruflich erfolgreich sein
und
eine glückliche Ehe führen, eine gute Mutter und Hausfrau sein kann. Dass so etwas möglich ist, befand sich früher außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Es an der eigenen Tochter jetzt miterleben zu können, ist für sie eine völlig neue Erfahrung. Es eröffnet ihr eine fremde Welt, der sie zunächst mit Ablehnung, dann mit Staunen und nun mit immer größerer Begeisterung begegnet.
Inzwischen sind die Telefonate mit meiner Mutter ruhig und gelassen. Kein Geschrei mehr, keine Anschuldigungen, wir hören einander zu.
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