Lohn der Angst
überfährt, auf dem man halten könnte.
Wenn nur die Fahrbahn nicht so schmal wäre. Zwei Trucks können nicht aneinander vorbei, ohne seitlich in den Sand auszuweichen.
Wieviel Minuten noch? Der rote Schein wird deutlicher in den aufgerissenen Augen der beiden Männer. Johnnys Gesicht klebt an der Windschutzscheibe. Gérard hält den Kopf noch immer dem Wind entgegen. Sie starren forschend in die Nacht, suchen das Geheimnis zu lüften – die Geheimnisse, sollte es mehrere geben ... Plötzlich brüllt der Rumäne:
»Die Scheinwerfer sind aus!«
»Schrei nicht so blöd. Ich hab sie selbst ausgeschaltet. Man sieht weiter ohne sie.«
Er hat recht. Die Tropennacht ist niemals ganz schwarz, dazu stehen zu viele Sterne am Himmel. Gérard hat sich die ungefähre Richtung der Straße eingeprägt. Es gehört keine Zauberei dazu, hier ohne Licht zu fahren, die Straße verläuft schnurgerade. Er hat die Augen drei Sekunden lang geschlossen, und als er sie wieder öffnet, ist die Mauer, an der sich die Lichtkegel der Scheinwerfer gebrochen haben, verschwunden. An ihrer Stelle dehnt sich ein mattes, transparentes Grau bis an den Horizont. Man sieht hindurch wie durch geschwärztes Glas. Und das erste, was ins Auge fällt, ist eine Girlande roter Lichter am Ende der Ebene. Gérard schaltet die Scheinwerfer wieder ein.
»Wir haben Zeit. Das dauert noch gute fünf Minuten, bis wir dort sind. Pech übrigens. Eine halbe Stunde später, und sie wären vor uns in Los Totumos.«
»Was wirst du machen?«
»Versuchen, sie zu überholen. Bei ihrer Geschwindigkeit können sie rechts in den Sand fahren, halten und uns die Strecke freigeben.«
»Sie müßten fast ganz hinunter.«
»Hoffentlich tun sie’s.«
Die Hupe mischt sich ins Spiel. Ein Notschrei, der sich zum Brausen des Windes gesellt. Die acht Kolben des Motors pumpen die Luft in die Gänge der gellenden Sirene. Die Schreie der Maschine, zuerst unartikuliert herausgeheult, nehmen Rhythmus an. Kurz – lang – kurz ... seit jeher zwischen den Truckfahrern dieser Gegenden vereinbartes Zeichen, wenn es heißen soll: Cuidado! Cuidado! ... Achtung! Achtung! ... Bahn frei! Bahn frei! ... Ich überhole ... Ich überhole...!
Noch ein unartikuliertes Heulen. Selbst wenn er die Weisung nicht versteht, damit er wenigstens gewarnt ist. Brüll, Hupe, brüll lauter, mach ihm Angst, wenn du dich ihm nicht verständlich machen kannst, brüll! ... Sie heult, leiser, pausenlos, betäubend.
»Hör auf, laß mal die Hupe los«, sagt Johnny.
Jetzt sind es nicht nur die Augen, auch die Ohren versuchen, etwas aufzunehmen. Der Lärm des Windes behindert sie; aber es scheint ihnen, als hörten sie jedes Sandkorn, das die Räder aufwirbeln, gegen die Kotflügel und das Chassis schlagen.
Vor ihnen, in einer Entfernung von kaum fünfhundert Metern, zeichnet sich jetzt die Lichtgirlande ganz deutlich gegen den Himmel ab: so nahe sind sie jetzt heran. Man hört noch immer kein Antwortsignal.
Gérard drückt erneut auf die Hupe. Kurz – lang – kurz. Das Konzert fängt von vorne an.
»Sei mal ruhig«, sagt Johnny und legt Gérard die Hand auf den Arm. In diesem Augenblick ist der Johnny fast normal. Er ist zu beschäftigt, um Angst zu haben. Er hat jetzt keine Zeit dazu, er vergißt, daß er Angst hat.
»Horch mal ... ist das nicht...?«
Tatsächlich. Das ist eine Art kindliches Gekrächze, meckernd, stammelnd, heiser. Dennoch, rhythmisch in abgehackten Takten. Das ist eine Nachricht, die Antwort. Aber warum macht er nicht Platz? Er täte besser daran. Sie sind nur noch zweihundert Meter entfernt, und was sind zweihundert Meter bei dieser Geschwindigkeit?
»Was sagt er?« fragt der Rumäne, der wohl begriffen hat, daß es sich um Morsezeichen handelt, sie aber nicht versteht.
E ... S ... P ... E ... R ... A ... Espera, wartet...
»Er sagt: Aus ist’s. Spring ab oder bete.«
Johnny antwortet nicht, aber er springt auch nicht ab. Seine Lippen bewegen sich schweigend, dann bedeckt er sein Gesicht mit beiden Händen, ein Leichentuch, weißer als Schnee über dem erstorbenen Antlitz. Das rote Licht spiegelt sich jetzt in der Windschutzscheibe. Es sind nur noch Sekunden. Gérard schluckt mehrmals den Speichel hinunter. Johnny blickt ein letztes Mal geradeaus und öffnet den Mund, entschlossen, schreiend zu sterben.
Die Hupe heult. Stürmer klammert sich an sie wie an einen Rettungsring. Sie leistet ihm Gesellschaft. Er möchte die Augen schließen, aber es gelingt ihm nicht. Er gehört zu
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