Lohn des Todes
Robert strich mir sacht über den Arm. Ich schüttelte den Kopf, dann
stiegen Tränen in mir hoch.
Wie peinlich, Conny, wie unglaublich, unsagbar, unerhört peinlich, dachte ich. Bisher waren alle Un-Wörter meiner Schwester
vorbehalten gewesen, und nun hatte es mich erwischt.
»Wie lange?«, fragte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Seit wann wusstet ihr es?«
»Eigentlich erst seid gestern. Als wir hier herkamen. Da waren die beiden plötzlich wie Turteltauben.« Er hustete. »Verzeih
den Ausdruck. Sie schienen sehr verliebt. Als du kamst, traten die Spannungen auf. Das habe ich sofort gespürt und hinterfragt.
Für Teamarbeit ist das die Hölle.«
»Und deshalb hast du Maria weggeschickt?« O Gott, dachte ich, wie hatte mir das passieren können?
»Nein, sie hat darum gebeten, fahren zu dürfen.«
»Das ist nicht dein Ernst?« Ich sah Robert an. Er schaute mir in die Augen. Etwa zweiundfünfzig Muskeln bewegen das Gesicht,
in seinem rührte sich keine, dann zuckte ein Nerv unter seinem Auge. Er war nervös, aber nicht weil er mich anlog, sondern
weil er mich verletzte und es wusste. Etwas, was er Martin voraushatte.
»Sie wollte fahren, und ich hatte keine Verwendung mehr hier für sie. Für dich schon.« Nun senkte er den Blick. Da war noch
etwas, etwas, das er nicht sagte. Ich wollte gar nicht wissen, was es war. Alles war mir zu viel. Dies Wochenende hatte mich
überrannt. Ich hatte mich selbst überholt, eingeholt und schließlich Maria im Ziel gefunden. Der Hase und der Igel, dachte
ich, Grimms Märchen. Sie war schon längst da, ich hätte laufen können, wie ich wollte, sie war schon da, unschlagbar. Noch
so ein Un-Wort, und es tat weh.
Mein momentanes Mantra kam mir in den Sinn, das Lied |97| von den Pixies: Where is my mind – wo ist mein Verstand? Ich wusste es nicht, die Erkenntnis schmeckte bitter.
»Meine Entscheidung war dumm und eigentlich auch unfähig«, murmelte Robert.
Unfähig. Ein weiteres Wort mit »un«. Beinahe hätte ich bei dem Gedanken gelacht.
»Ich habe dir aus Eigennutz Dinge zugemutet, die nicht tragbar sind. Es tut mir leid, ich hätte es besser wissen müssen.«
Robert verzog das Gesicht, etwas in seinem Ausdruck zersplitterte. »Es war … es ist nicht tragbar. Als Leiter der OFA sollte
ich da sensibler sein. Und dann noch der Unfall deiner Mutter. Das ist einfach zu viel.«
Ich nickte, wusste nichts zu sagen. Das Feuer im Ofen erlosch langsam, es wurde kalt.
»Wie geht es deinem Vater?« Seine Frage klang so, als suchte er nur einen Grund, um das Gespräch im Gang zu halten, nicht
nach wirklichem Interesse.
»Gut.« Ich stand auf, fühlte mich steif, verkrampft. »Du, ich muss ins Bett.«
Ich ging nach oben. Langsam, zaghaft. Überwältigt von meinen Gedanken und Gefühlen. Ich hätte Martin gleichzeitig die Augen
auskratzen und ihm tausend Fragen stellen wollen. Doch für keines der Dinge war jetzt die rechte Zeit. Ich legte mich ins
Bett, schlief sofort ein, wachte ein paar Stunden später schweißnass wieder auf. Ein Gedanke hatte mich bis in den Schlaf
verfolgt. Aber ich konnte ihn, einmal wach geworden, nicht mehr greifen. Es hatte etwas mit Sonja und dem Fall zu tun. Aber
was, wusste ich nicht mehr. Der Mond stand hoch am Himmel und beleuchtete das Zimmer. Neben dem Bett lag Charlie, träumte
lebhaft.
Ich trank einen Schluck Wasser, drehte mein Kissen um, suchte eine kühle Stelle und konnte doch nicht einschlafen. Sonja war
verzweifelt gewesen nach dem Tod der Mutter, fühlte sich verfolgt. »Von wem?«, hatte ihr Vater gefragt. Von wem, vom wem …
es gab niemandem in ihrem Leben, über den Gedanken schlief ich wieder ein.
|98| Als ich wach wurde, schien die Sonne in das Zimmer, ein breiter Streifen Licht, der den Dielenboden wie Honig aussehen ließ.
Charlie stand auf, streckte sich nach bester Hundemanier, schüttelte sich einmal und leckte dann über meine Hand.
Im Haus war eine diffuse Unruhe zu hören. Wie in einer Jugendherberge am Morgen der Abfahrt. Vermutlich traf es das ganz gut.
Ich stand auf, streifte mir etwas über und ging nach unten. Aus der Küche duftete es, Robert kochte Eier und briet Speck.
Ich nahm den Hund, lief mit ihm ins Dorf und kaufte Brötchen. Es war ungewöhnlich warm, und die anderen hatten den Tisch im
Hof gedeckt. Von der Terrasse aus konnte man über den dichten Wald hinweg in das abfallende Tal bis zum See sehen. Dort hingen
noch die Nebelschwaden, langsam, wie
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