Lokalderby
versuchte, die neuen Informationen in seinem Geiste logisch zu ordnen. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn! Dann hätte er das Zeug ja unmittelbar vor dem Hannover-Spiel einnehmen müssen. Zieht sich ein Selbstmörder nicht eher zum Sterben zurück, statt seinem Leben mitten in der Öffentlichkeit ein Ende zu setzen?«
»Nicht unbedingt. Denk an die verantwortungslosen Idioten, die sich von Autobahnbrücken oder Hochhäusern stürzen. Manche Selbstmordkandidaten wollen sich möglichst spektakulär und vor großem Publikum verabschieden.«
»Aber, aber . . .« Er suchte nach Gegenargumenten, denn die Suizidthese schien ihm nicht stichhaltig zu sein. »Habt ihr denn einen Abschiedsbrief gefunden?«
Katinka überlegte kurz. »Bisher nicht. Aber wir haben noch nicht gezielt danach gesucht.«
Pauls Blick fiel auf die Küchenuhr. Zwanzig vor acht. Er lag also noch einigermaßen gut in der Zeit, zumal damit zu rechnen war, dass sich seine Eltern verspäten würden. Zum einen, weil seine eitle Mutter immer ewig vor dem Spiegel stand, ganz abgesehen von der zeitraubenden Garderobenwahl. Zum anderen würde ihr kurz vor knapp einfallen, dass sie ja noch mit Pudeldame Bella Gassi gehen müsste. Und Vatis nachlassende Sehkraft, die ihm vor allem in der Dunkelheit zu schaffen machte, würde die Fahrt hierher in die Länge ziehen. Eigentlich, dachte Paul, war seinen Eltern ein abendlicher Besuch in Nürnberg gar nicht mehr zuzumuten.
Er richtete gerade den Fisch her, um ihn dann zur schonenden Erwärmung dem Dampfgarer zu überlassen, als das Telefon klingelte.
»Sie werden doch nicht etwa absagen?«, argwöhnte Paul.
»Wundem würde es mich nicht«, meinte Katinka auf dem Weg zum Telefon. »Wäre ja nicht das erste Mal, dass sie uns versetzen, wenn wir etwas Schönes für sie geplant haben.«
»Motz nicht über deine Schwiegerleute, bessere bekommst du in diesem Leben nicht mehr«, witzelte er.
Katinka fand das nicht sonderlich lustig. Zumindest hatte sie eine finstere Miene aufgelegt, als sie ihm den Hörer in die Hand drückte. »Hier, für dich.«
»Wirklich meine Eltern?«, fragte Paul, worauf Katinka den Kopf schüttelte.
»Ja, Flemming am Apparat«, sagte er und vernahm eine ihm bekannte Frauenstimme. Rita Frenzel, die Vorsitzende des Fanklubs Seitzengarten, war dran und hatte eine wichtige Nachricht für ihn. Paul wollte sie zunächst auf morgen vertrösten, denn er musste sich dringend weiter um das Essen kümmern. Doch als er hörte, was sie ihm zu sagen hatte, verschoben sich seine Prioritäten.
»Du, Kati«, sagte er leise, beinahe sanft, nachdem er den Anruf beendet hatte.
»Du, Paul?«, äffte sie ihn nach. »Was ist los? – Und warum bindest du die Schürze ab?«
»Du, Kati, ich muss noch mal schnell fort.«
Katinkas Kinnlade klappte nach unten. Fassungslos starrte sie ihn an, bevor sie ihre Sprache wiederfand. »Das ist jetzt nicht dein Emst! Du lässt mich mit einem halbfertigen Viergangmenü und deinen Eltern allein?«
Paul drängte sich an ihr vorbei, um in den Flur zu gelangen. »Vati und Mutti sind ja noch gar nicht da«, sagte er, während er in seine Slipper schlüpfte und sich die Jacke vom Haken nahm.
»Das kannst du nicht tun!«, protestierte seine Frau. »Ich weiß gar nicht, was noch am Fisch und so weiter gemacht werden muss.«
»Steht alles in Jan-Patricks Notizen«, rief ihr Paul zu, als er schon die Haustür geöffnet hatte.
»Das wirst du mir büßen, Paul! Bitterlich büßen!«
15
Die Adresse lag am Rande des Stadtteils Schweinau. Ein etwas heruntergekommenes Industrieviertel, in dem sich Baustoffhändler und Lager mit brachliegenden Hallen abwechselten. Das von Rita beschriebene Grundstück gehörte zu den nicht mehr genutzten Liegenschaften, zumindest machte es auf Paul einen verwahrlosten Eindruck.
Paul stoppte seinen Renault vor einem hohen Maschendrahttor, das mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Wie sich schon bei oberflächlicher Untersuchung herausstellte, war es nicht eingerastet und ohne Probleme abzunehmen. Paul öffnete das Tor gerade so weit, dass er hindurchpasste.
Die Dämmerung hatte längst eingesetzt, und so sah er die große Lagerhalle, auf die ihn Rita am Telefon hingewiesen hatte, nur als mächtige schwarze Fläche. Nach den Informationen der Fanklubchefin hielt sich an diesem unwirtlichen Ort derjenige auf, mit dem Paul noch ein Hühnchen rupfen wollte. Genauer gesagt: dem er allzu gern eine Abreibung verpassen würde, um sich für die Schläge an
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