Lokale Erschuetterung
Sorgenpüppchen unters Kissen gelegt. Sie können mir glauben, hierher zu uns kommen die Frauen erst, wenn nichts, aber auch gar nichts geholfen hat. Auch die, die längst keinen Kinderwunsch mehr haben oder nie einen hatten, tun sich schwer damit, diesen Entschluss zu fassen. Sich zu trennen. Aber ich kann Ihnen eins versichern, Frau Grabowski. Hinterher, wenn diese Frauen es entschieden und überstanden haben, geht es ihnen allen besser.
Veronika fängt an zu weinen. Still und ruhig weint sie ein bisschen vor sich hin und wundert sich, dass dieser vielbeschäftigte Dr. Best so viel Zeit hat. Er wird nicht ungeduldig, schaut nicht auf die Uhr, schiebt keinen abschließenden Unsinnssatz über den Schreibtisch, sondern |99| lässt sie einfach vor sich hin weinen. Und dann ist es auch vorbei. Veronika steht auf, hält dem Arzt die Hand über den Tisch hin, nimmt das Papier, auf dem er rumgemalt hat, und steckt es in die Handtasche.
Wir sehen uns in drei Wochen, sagt der Arzt. Nehmen Sie die Tabletten bis dahin einfach weiter. Und freuen Sie sich auf die Zeit danach.
Veronika geht noch einmal ins Wartezimmer, um ihre Jacke zu holen. Da sitzt eine Frau, und drei Kinder wuseln um sie herum. Wie die Orgelpfeifen, denkt Veronika. Und schaut auf die Bagage. Dann weint sie noch einmal. Wieder still und leise. Niemand sieht es. Sie zieht ihre Jacke an und lässt die Tränen einfach tropfen. Die Nase putzen kann sie sich draußen.
Die Fahrt von der Klinik in die Stadt dauert eine Weile. Veronika überlegt, ob sie gleich von der S-Bahn aus zu dem netten Polizisten gehen soll. Aber dann fällt ihr ein, dass sie den Brief zu Hause auf dem Schreibtisch hat liegenlassen. Also fährt und läuft sie erst einmal nach Hause. Ruft ihre Gynäkologin an und erzählt, wie es war in der Klinik und was die gesagt haben. Gut, sagt die. Wenn du möchtest, reden wir noch mal. Bei einem Kaffee, schiebt sie hinterher, und Veronika hat das Gefühl, dass sie den Atem anhält bei dem Satz.
Zögerlich nimmt sie das Angebot an. Warum zögere ich, denkt sie. Es ist doch eine nette und freundliche Geste.
Morgen vielleicht. Wenn du Zeit hast.
Die Gynäkologin schlägt vier Uhr nachmittags vor, nach der Sprechstunde. Im Schönbrunn, wenn die Sonne scheint, sagt sie, und Veronika ist einverstanden.
Um vier im Schönbrunn, draußen irgendwo. Die haben ja jetzt so viele Plätze wie ein Kinderferienlager. Die Gynäkologin lacht leise, und das Lachen klingt zugleich erleichtert. Dann legt sie auf.
|100| Will sie mich umstimmen, fragt sich Veronika. Ist es das? Aber sie kann es sich nicht vorstellen. Ihr ewiges und sinnloses Leiden ist so offensichtlich, was könnte noch dagegen sprechen, es ein für alle Mal zu beenden? Sie nimmt den Brief vom Schreibtisch und schaut noch schnell nach ihren E-Mails. Ihr Angebot ist akzeptiert. Nur an einer Stelle soll sie nachbessern. Nicht zwei Vorschläge für neue Vertriebswege unterbreiten, sondern drei. Bitte, das können die haben. Fünf sogar, wenn es nach ihr geht, aber das wird sie nicht sagen. Am Ende funktioniert ja doch nur ein einziger Vorschlag, auch das behält sie besser für sich. Es war so mühevoll zu lernen, wie man es macht. Dass man sich um Gottes willen nicht zu früh in die Karten schauen lässt, nicht mal, wenn die Leute, die einem gegenübersitzen, sympathisch erscheinen.
Veronika erinnert sich daran, wie sie noch vor drei Jahren ganze Monatseinkommen in die Tonne treten konnte, einfach nur, weil sie zu ehrlich war. Diese beiden Typen mit dem Sanitätshaus zum Beispiel. Wenn sie an die denkt. Hatten sich eine hübsche neue Mobilitätshilfe ausgedacht. Für die Zeit nach einem Oberschenkelhalsbruch. Wollten damit in Serienproduktion gehen, und dafür brauchten sie ein Konzept für Marketing und Vertrieb. Erst das Konzept, haben sie gesagt, und wenn es gut ist, kaufen wir es und beauftragen Sie mit der Umsetzung. Das Konzept war gut. Aber die Typen haben es nicht gekauft. Brüder waren die, Veronika erinnert sich gut. Wie sie mit den beiden Brüdern in einem kleinen Konferenzraum gesessen und ihr Konzept präsentiert hatte. Wie die beiden feisten Buddhas dasaßen und an allem rummäkelten. Und dann der Satz: Wir melden uns bei Ihnen, Frau Grabowski. Nie wieder hat sie was von denen gehört. Aber als sie sechs Monate später mal auf der Webseite von dem Laden war, hatte sie ihr Konzept |101| gefunden. Umgesetzt und nur an wenigen Stellen leicht abgewandelt. Da ist sie noch einmal hin und hat
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