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Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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weiß. Weil sie eigentlich gar nichts weiß. Nur etwas gesehen hat und all die Jahre dachte, irgendwann wird ihre Patientin Veronika Grabowski erklären, was war. Wenn man genügend Vertrauen gefasst, sich ein bisschen angefreundet hat. Sympathisch war sie ihr vom ersten Moment an. Die traurige Veronika Grabowski. Und zwischendurch hatte sie es dann auch wieder ganz vergessen. Da waren die anderen Dinge drängender. Erst als das tote Kind geboren wurde, vor zwanzig Jahren, ist ihr alles noch einmal richtig in den Sinn gekommen. Aber das war wieder nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu reden. Da ging es wohl eher darum, die Frau vor dem Schlimmsten zu bewahren. Damals hatte sie Hanns Grabowski kennengelernt. Der stand eines Tages in ihrer Praxis. Verzweifelt und zu allem entschlossen, was helfen könnte. Sie stirbt, hatte er gesagt, sie stirbt. Sie müssen ihr erklären, dass dieses tote Kind nicht das letzte Kind ist. Dass es beim nächsten Mal gutgehen wird.
    Und sie hatte erklärt. Zumindest, dass es nicht das letzte Kind gewesen sein müsse. Aber es blieb das letzte Kind. Obwohl bei Veronika und Hanns alles in Ordnung war, kam es zu keiner weiteren Schwangerschaft. Es gab keinen Grund, irgendetwas künstlich herbeizuführen, das nach allen Erkenntnissen auch auf natürlichen Wegen funktionieren sollte. Nur, dass es eben nicht funktionierte. Jahr für Jahr war Veronika zu ihr gekommen, um sich untersuchen zu lassen und der Vorsorge anheimzustellen. Hatte immer weniger davon geredet, wie frustrierend es sein musste, mit einem unerfüllten Wunsch zu leben. Ein totes Kind in |123| der Erinnerung zu haben und kein lebendes in der Gegenwart. Der richtige Zeitpunkt, darüber zu reden, dass es schon einmal ein Kind gegeben haben musste, war nie gegeben.
    Veronika steht vor Sabine und schaut ihr in die Augen. Hör auf, sagt sie. Hör auf nachzudenken. Es ist vorbei.
    Sie küsst Sabine flüchtig auf die Wange. Dreht sich um und geht. Macht große Schritte, die selbstsicher wirken und Sabine ein wenig beruhigen. Beruhigen sollen, denkt die, aber es ist egal, Hauptsache, sie hat das Gefühl, dass Veronika sicher über die Straße kommt und zu Hause nicht ins Bodenlose fällt. Für einen Moment überlegt sie, ob es besser wäre, Hanns anzurufen. Sie hat seine Telefonnummer. Aber vielleicht behält Veronika auch alles für sich, redet nie wieder darüber. Diese Möglichkeit sollte sie ihr offenlassen. Es gibt keinen akzeptablen Grund, sich einzumischen.
    Veronika macht so lange große Schritte, wie sie sich in Sabines Blickfeld glaubt. Dann setzt sie sich auf eine Bank und fängt an, in ihrer Tasche zu kramen. Holt ein kleines rotes Büchlein raus und schaut nach, wo ihr Vater wohnt. Hab ich doch tatsächlich seine Adresse nicht im Kopf, denkt sie und lacht laut auf.
    Mein Herz ist nicht mehr mein, o könnt ich bei dir sein, so wäre mir geholfen von aller meiner Pein. Das Feuer kann man löschen, die Liebe nicht vergessen, das Feuer brennt so sehr, die Liebe noch viel mehr.
Veronika trällert und blättert und findet die Adresse. Ein Kaff, murmelt sie. Wusste ich’s doch, dass er in einem Kaff wohnt. Dann steht sie auf und läuft mit kleinen Schritten nach Hause. Zu Hanns.

|124| 12. Kapitel
    Hanns hört sich an, was Veronika ihm sagt. Dass sie zu ihrem Vater fahren will. Den sie lange nicht gesehen hat. Nach dem sie Sehnsucht spürt.
    Welch ein Blödsinn, denkt er, Vroni hat seit Ewigkeiten keine Sehnsucht mehr nach ihrem Vater gehabt. Seit ihre Mutter verschwunden ist. Was will sie denn jetzt in dem Kaff?
    Aber er sagt nichts. Ihm ist es egal, ob das stimmt, was Veronika da erzählt. Hauptsache, sie erzählt überhaupt irgendwas und ist nicht mehr so todtraurig und verrückt.
    Fahren wir morgen nach Frankenburg, eine Wohnung suchen?
    Morgen nicht, ich muss arbeiten, das Konzept schreiben. Das Vertriebskonzept, schiebt Veronika hinterher, als habe es dann mehr Sinn, dass sie morgen keine Zeit finden wird.
    Übermorgen, gut. Hanns kann sich mit allem arrangieren. Hauptsache, sie lässt ihn nicht allein, die Frau an seiner Seite. Die Frau an meiner Seite, denkt er. Wir werden beide langsam verrückt. Ich kann mich ja dann morgen schon mal umhören und vielleicht einen Besichtigungstermin ausmachen.
    Veronika schaut, als sähe sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben.
    Eine Wohnungsbesichtigung, präzisiert Hanns. Hört sie ihm überhaupt zu? Ist da jemand zu Hause? Hat sie noch alle Tassen im Schrank? Stimmt noch alles im

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