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Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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Meine größte Schwäche, dass ich meist zu spät komme. Dafür sind mir schon Freundschaften gekündigt worden.
    Veronika schaut auf die Uhr und lächelt. Drei Minuten zu spät, das ist doch wunderbar. Wärst du nicht gerannt, hätten es zehn Minuten werden können. Auch verschmerzbar.
    Sabine schaut sie an, beugt sich über den Tisch und gibt ihr einen Wangenkuss. Das kommt überraschend. Sie kennen sich nun zwar schon seit dreiundzwanzig Jahren, aber so richtig feste Freundinnen sind sie nicht geworden. Nur Fast-Freundinnen eben. Das mag an der Rollenverteilung liegen. Irgendwann hatte Veronika mal bei einer Untersuchung gesagt: Hör mal, es kann doch nicht sein, dass wir uns immer nur sehen, wenn ich für dich die Beine breit mache. Das hatte den Bann ein bisschen gebrochen. Danach waren sie dann ein paar Mal Kaffee trinken |115| gegangen. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Sie hatten sich einander genähert. Und manchmal scheint es Veronika, dass sie Sabine als Erste anriefe, säße sie mal so richtig in der Scheiße.
    Aber auch nicht weniger, denkt Veronika noch einmal und winkt die Kellnerin ran. Was willst du, fragt sie, und Sabine schlägt Prosecco vor.
    Prosecco? Veronika ist verblüfft. So früh am Tag und Alkohol, da hat sie ihre Gynäkologin wohl falsch eingeschätzt. Aber es klingt nach einer guten Idee, also bestellt sie zwei Prosecco und eine Flasche Wasser.
    Dann reden sie beide eine Weile um den heißen Brei herum. Zumindest kommt es Veronika so vor. Sabine erzählt, dass sie fast alle Patientinnen einer älteren Kollegin übernommen hat, die in Rente gegangen ist. Fast alle sind Musliminnen, sagt sie und sieht ein wenig unglücklich aus. Das ist nicht einfach mit denen, vor allem, wenn der Vater oder der Ehemann draußen im Warteraum sitzt. Letztens hatte ich eine, ganz jung noch, blutjung, die war schwanger. Als ich es ihr sagte, sah sie aus, als hätte sie ihre eigene Todesnachricht erhalten.
    Veronika zuckt zusammen. Bei solchen Geschichten steigt die bittere Galle in ihr hoch. Dagegen kann sie nichts tun. Dass die Dinge sich so ungerecht verteilen, macht sie hilflos und wütend. Wird sie das Kind zur Adoption freigeben?
    Das weiß ich nicht. Nachdem ich ihr gesagt hatte, was Sache ist, stand sie auf, zog sich an und verschwand. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen. Wer weiß, ob sie die nicht in die Türkei gebracht haben. Ich kann da nichts machen, Veronika.
    Sabine spricht, als wüsste sie ziemlich genau, was in Veronika abläuft, welche Verwerfungen die erleidet, bei derartigen Geschichten. Sie sieht aus, als bereue sie, davon |116| angefangen zu haben. Und damit ist dann auch das Drumherumreden beendet. Sabine kommt zur Sache.
    Veronika, ich will dich was fragen. Und ich weiß weder, ob es wirklich wichtig, noch, ob es richtig ist, das zu tun. Du bist seit dreiundzwanzig Jahren bei mir. Kannst du dich noch an deinen ersten Termin erinnern?
    Warum sollte ich mich nicht erinnern? Du warst meine erste Frauenärztin und hast mir den Kopf gewaschen, weil ich bis dahin nie zu diesen Vorsorgeuntersuchungen gegangen bin.
    Dass du da überhaupt so durchgerutscht bist, in diesem Land, wo Vorsorguntersuchungen geradezu Pflicht waren. Sabine scheint froh über die Ablenkung vom Eigentlichen. Sie macht den Eindruck, als hätte sie sich doch nicht richtig überlegt, ob dieses Gespräch eine gute oder schlechte Idee ist. Veronika gibt ihr eine Chance, steht auf und geht aufs Klo. Kehrt noch mal um, weil sie Kleingeld vergessen hat, und stellt sich dann zum Pinkeln an. Die Toiletten schrecken sie immer ein wenig davon ab, sich hier zu verabreden. Sie erinnern an Ferienlager und Campingurlaube. Vor allem an Campingurlaube. Veronika steht und wartet und denkt an das eine Mal, als sie mit Hanns zusammen zelten war. Auf Usedom, bei Schafskälte und Regen. Fünf Tage haben sie durchgehalten. Dann bekam sie zum Glück Fieber und eine ordentliche Bronchitis, und somit war ausreichend Begründung gegeben, auf einen mühevoll erworbenen Campingplatz in Zinnowitz zu verzichten und nach Hause zu fahren.
    In direkter Nachbarschaft hatte ein Ehepaar campiert, dessen Zelt war eingerichtet wie ein Wohnzimmer. Veronika erinnert sich, dass sogar ein Teppich im Zelt lag. Das ist doch der Hammer, hatte sie zu Hanns gesagt, als das Ehepaar sie beide irgendwann auf ein Bier einlud. Da saßen sie zu viert in einem großen Zelt, mussten draußen die |117| Schuhe ausziehen, um den Teppich nicht zu beschmutzen, und tranken

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