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Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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ihren Satz bestätigen. Die Leute haben viel zu viel Brot übrig. Da bin ich fehl am Platz. Weil ich es mir nämlich vom Mund abspare. Wissen Sie?
    Veronika erinnert sich an ein Lied von einem dieser Schnulzenheinis, in dem eine alte Frau Tauben füttert, und dann nehmen ihr die Touristen den Job weg. So oder so ähnlich war die Geschichte. Ich weiß, sagt sie und berührt die Frau kurz am Arm, bevor sie sich wieder umdreht und zu Sabine zurückgeht. Sie hat überhaupt keine Wahl. Jetzt darüber zu reden, hieße, sich umzubringen. Genau das. Ihr bleibt nur die Lüge. Einfach leugnen. Das ist ein guter Plan.
    Sabine Marschner sitzt noch immer an Ort und Stelle. Hat sich nicht bewegt und nichts getan in der Zwischenzeit. Aber wohl ein bisschen Mut gefasst.
    |120| Veronika, ich habe keine Erklärung. Wenn die jemand haben kann, dann du. Aber Tatsache ist, dass du schon vor der Totgeburt einmal geboren haben musst. Sprich mit deinen Eltern.
    Meinem Vater. Ich habe nur einen Vater.
    Sprich mit deinem Vater, es ist zumindest möglich, dass er etwas weiß. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass eine Amnesie so lange. Wie viele Jahre bist du mit Hanns zusammen?
    Veronika weiß es nicht. In diesem Moment fällt ihr gar nichts ein. Sie könnte nicht mal sagen, wie alt sie ist.
    Seit 1984, glaube ich. Doch, so lange ist es schon. Vierundzwanzig Jahre. Wir können bald Silberhochzeit feiern. Meinst du, dass es zu Leuten wie uns passt, Silberhochzeit zu feiern?
    Sabine sieht irritiert aus.
    Natürlich passt es. Wenn ihr Lust darauf habt, dann feiert Silberhochzeit. Veronika, es ist deine Entscheidung. Wenn du es nicht wissen oder nicht darüber reden willst, dann kümmere dich nicht drum. Vergraben ist es ja wohl gut genug. Aber es könnte doch sein.
    Veronika schaut auf und Sabine an. Sie wartet. Lässt Sekunde um Sekunde verrinnen. Wartet darauf, dass Sabine den Satz zu Ende bringt. Es könnte doch sein. Sie ist nicht blöd. Sie weiß, was ihre Gynäkologin da sagen will und nicht aussprechen kann. Es könnte doch sein, dass es ein Kind gibt. Ein lebendes Kind. Von dem Veronika nichts weiß. Kaum vorstellbar für eine wie Sabine, aber liest und hört man nicht andauernd von Menschen, die eine Amnesie erleiden, sich nicht mehr erinnern können oder wollen? Im Bücherschrank von Hanns stehen eine ganze Menge derartiger Geschichten rum. Alles Zeugs, wie Hanns immer sagt, aber er liest so was gern. Diese ganzen abstrusen Geschichten von Serienmördern und |121| Außerirdischen. Diesen Mulderundscullyschrott. Veronika denkt, dass sie noch heute anfangen wird, den Mist zu lesen. Um sich abzulenken von dieser Geschichte hier, die sie so mühevoll in eine dunkle Kammer gesperrt hat. So viel Zeit und Kraft, um etwas für sich zu behalten, was eine Frauenärztin dann an der Form des Muttermundes erkennt. Wie blöd muss man eigentlich sein? Wie blöd bin ich eigentlich?
    Ach Sorge, du musst zurücke stan, du bist zu früh gekommen, der Winter hat mir Leids getan, das muss ich klagen dem Sommer.
    Sie schaut nicht mehr auf Sabine, die ganz und gar verzweifelt aussieht und vorsichtig eine Hand über den Tisch schiebt.
    Veronika, hörst du. Du kannst es auch einfach lassen. Wir trinken jetzt noch ein Glas Prosecco und gehen dann nach Hause. In drei Wochen gehst du in die Klinik. Danach wird es für dich einfacher. Weißt du.
    Sabine verstummt wieder. Winkt der Kellnerin und bezahlt. Schaut zu Veronika und denkt, was habe ich angerichtet? Was habe ich nur angerichtet?
    Veronika summt und singt einfach weiter. Hört nicht auf damit, improvisiert zu den Worten eine Melodie, die so alt ist wie zehn Leben.
Die Sonne scheint nicht mehr so schön als wie vorher, der Tag ist nicht so heiter, so liebreich gar nicht mehr. Das Feuer kann man löschen, die Liebe nicht vergessen, das Feuer brennt so sehr, die Liebe noch viel mehr.
    Ich muss nach Hause, sagt Veronika und lächelt. Danke, dass du gekommen bist. Mach dir keine Sorgen. Ich werde nachdenken, und vielleicht fällt es mir ja ein. Wie es gewesen sein könnte. Vielleicht bin ich aber auch nur ein anatomisches Wunder. Dass der Wunsch so stark war wie tausend Gedanken. Mir das Muttermundgrübchen umgebaut |122| hat, ohne dass es dafür einen Grund gab. Alles ist denkbar, Sabine. Ich habe schon seltsamere Dinge gehört.
    Sabine nickt. Was soll sie tun? Das ist zwar blanker Unsinn, was Veronika da redet, aber wenn es ihr hilft. Soll sie so denken. Es war ein Fehler, ihr zu erzählen, was sie

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