Lokale Erschuetterung
durch den Spalt der sich schließenden Tür. Dann winkt sie, dreht sich um und geht zu ihrem Platz. Hanns winkt zurück, halbherzig und traurig. Und im gleichen Moment vermisst er sie schon. Seine verrückte Frau. Sie hat nur einmal in diesen Stunden hier eines dieser blöden Lieder geträllert. Das ist doch ein gutes Zeichen. Das kann doch nur ein gutes Zeichen sein. Er dreht sich um und geht. Dreht und wendet die Dinge in seinem Kopf, bis sie wieder vertraut wirken. Schiebt die Traurigkeit weg. Klappe zu, Affe tot. Lässt die Wut langsam kommen. Läuft über den Bahnsteig und nimmt den Weg über die Gleise. Ist verboten. Verdammt verboten, murmelt er. Nicht für Weicheier wie mich, die es nicht mal hinkriegen, sich zu |225| beschweren, wenn die Alte mit einem historischen Geheimnis kommt. Was lass ich mir da eigentlich erzählen? Hält die mich für blöd? Bin ich so ein Hanns Wurst, ein Hanswurst, ein Würstchen, ein Schlappschwanz, Pimmelspieler, Affenarsch, Warmduscher? Bin ich das? Kann man mich einfach so auf die Rolle schieben und glauben, ich nähme das alles hin und steckte es weg und machte mir aus der Welt eine Lesekiepe?
Hanns steht vor seinem Auto und sucht den Schlüssel. Kramt in allen Taschen und flucht leise vor sich hin. Arschloch, brüllt er, und eine ältere Frau dreht sich erschrocken nach ihm um. Ich suche nur meinen Autoschlüssel, beruhigt er sie. Mach dich vom Acker, sonst ramm ich dir meinen Schwanz ins Maul, denkt er. Die Frau dreht sich um und geht. Wendet hin und wieder noch einmal den Kopf, als befürchte sie, dass ihr der Typ am Auto hinterherläuft und eine runterhaut. Hanns findet den Autoschlüssel, steigt ein und fährt los. Lässt ein bisschen die Reifen quietschen und sieht, wie die Glatzen auf dem Bahnhofsvorplatz zu ihm rüberglotzen. Die stehen jeden Tag hier. Machen ihr Ding. Stehen im kleinen Kreis. Noch, denkt Hanns manchmal. Noch ist es ein kleiner Kreis. Sie trinken ruhig ein Bier nach dem anderen und reden. Prüfen aufmerksam, wer kommt, um zu fahren oder jemanden abzuholen. Kommentieren den einen und die andere, ohne zu pöbeln. Zumindest hat Hanns sie noch nie pöbeln gesehen. Andere sagen, es käme schon vor, dass die jemanden anmachten. Der Praktikant in der Redaktion behauptet, man sollte sich hier lieber nicht mit dem falschen Shirt oder grünen Haaren sehen lassen. Als ob es hier Leute mit grünen Haaren gibt. Nicht hier und nicht in den Käffern ringsum. Insofern besteht ja wohl keine Gefahr. Max steht auch hin und wieder hier. Hanns hat ihn mal gefragt.
|226| Manchmal geh ich hin. Hab eigentlich zu wenig Zeit, muss arbeiten. Und die Jungs da haben alle keinen Job, hatte der gesagt. Ist nicht meine Liga, die verblöden langsam. Und die Mädels sind dumme Matratzen. Kannste nur ficken und sonst nichts. Brauch ich eine Frau, die nur zum Ficken gut ist?
Hanns hatte den Kopf geschüttelt. Und damit war das Gespräch beendet. Jetzt wenden die Glatzen kurz den Kopf, schenken Hanns ein, zwei Sekunden Aufmerksamkeit, bevor sie sich wieder ihrem Bier und ihren Gesprächen widmen. Hanns fährt zu seiner Wohnung. Wirft den Autoschlüssel auf den Küchentisch, zieht sich aus und legt sich auf das orangefarbene Laken, dem noch der Geruch der Zweisamkeit anhaftet. Starrt an die Decke und überlegt, wie er das mit Daniel machen soll. Mit dem Schlafen. Er kann sich ja schlecht mit dem Jungen in ein Bett legen. Mit dem Jungen, verdammte Scheiße, jetzt nennt er ihn auch schon so. Dabei ist das doch nicht mehr als eine Vermutung, die sich aus Verzweiflung nährt. Dass nun ausgerechnet die Schwuchtel Daniel Vronis Sohn sein soll. Wer es glaubt.
Hanns liegt und hört, wie es oben in der Wohnung laut wird. Tornemanns streiten sich. Das hat den Wert einer Neuigkeit. Bisher hat er noch nie gehört, dass die beiden da oben überhaupt wohnen. Deshalb können sie ja derartig selbstgerecht auf seiner Musik rumklopfen. Mit ihrem Besenstiel oder was immer das ist. Wahrscheinlich eher ein Wischmopp. Bescheuertes Wort. Wischmopp. Wenn man es wenigstens mit b schreiben könnte. Wischmob. Das wäre ja was.
Hanns hört, wie sich der Wortwechsel zu einem ordentlichen Crescendo steigert. Nun kann er auch verstehen, was gebrüllt wird. Offensichtlich findet Frau Tornemann, dass Herr Tornemann ein Säufer ist. Ich hasse es, |227| schreit sie, wenn du dir schon morgens nach dem Frühstück die erste Flasche aufmachst. Und alle halbe Stunde zum Kühlschrank gehst, mir die fadenscheinigsten
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