Lokale Erschuetterung
aufgehört. Ist jetzt still und starrt an die Decke. Für ein, zwei Sekunden glaubt Hanns, dass er nun doch tot ist. Erschlagen vom eigenen Wohnzimmerschrank. Aber dann bewegt Herr Tornemann die Pupillen, um ihn anzuschauen. Versucht, Kontakt aufzunehmen mit ihm.
Er hat gesagt, wenn er mich nur ansieht, sei ihm schon nach Alkohol.
Die Stimme von Frau Tornemann klingt monoton und fast flüsternd. Er hat gesagt, ihm sei so langweilig mit mir und unserem Leben, dass er sich eigentlich gleich auf den Teppich legen könnte, um zu sterben. Das mache auch keinen Unterschied, hat er gesagt. Ob ich mich hier hinlege und sterbe oder noch ein paar Jahre mit dir verbringe. |230| Dann hat er sich tatsächlich hingelegt. Und ich habe den Schrank auf ihn gekippt. Seit wir uns den Schrank gekauft und ihn hier aufgestellt haben, bitte ich ihn, Keile unterzulegen. Weil er so wackelt. Der Schrank. Bei jedem Schritt klimpern die böhmischen Kristallgläser. Das hat er nun davon, dass er keine Keile untergelegt hat.
Frau Tornemann dreht sich um und geht in die Küche. Ruft tatsächlich von dort hinüber ins Wohnzimmer und fragt, ob Hanns einen Kaffee haben möchte. Herr Tornemann hat aufgegeben, Augenkontakt zu suchen. Liegt nur noch da und starrt wieder an die Decke. Bewegt die Finger der linken Hand. Wenigstens das, denkt Hanns. Dann ist er ja wohl nicht querschnittsgelähmt. Im gleichen Moment glaubt er, dass Querschnittsgelähmte die Finger noch benutzen können. Er beugt sich zu Herrn Tornemann und fragt laut und deutlich: Können Sie Ihre Beine bewegen?
Herr Tornemann wackelt ein bisschen mit den Füßen. Millimeterarbeit.
Gott sei Dank. Hanns ist erleichtert. Der Kerl hier hat wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben den Aufstand geprobt und ist gleich unter der Vitrine gelandet. Eine Lähmung wäre doch eine zu große Strafe dafür. Hanns geht zum Fenster und schaut auf die Straße, ob endlich der Notarzt anrückt. Frau Tornemann kommt mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem Kaffeetasse, Zuckerdose und Milchkännchen stehen. Die hat sie nicht alle. Hanns schüttelt den Kopf, nimmt dann resigniert die Tasse, kippt etwas Milch in den Kaffee und trinkt einen Schluck. Dann klingelt es an der Tür.
Hanns will gehen, als der Notarzt endlich oben in der Wohnung ist. Aber der hält ihn zurück. Wir brauchen Sie vielleicht. Fürs Protokoll sozusagen. Die Frau scheint mir nicht ganz bei sich zu sein.
|231| Da kannst du Scheiße drauf fressen, denkt Hanns und will nur noch weg. Aber dann bleibt er. Morgen wird er sowieso den entsprechenden Polizeireport auf den Tisch kriegen, und da kann er hier auch gleich alle Informationen sammeln, die notwendig sind, um die Meldung zu schreiben.
Was ist mit ihm?
Der Arzt kniet vor Herrn Tornemann und ordert dann Trage und Träger, misst Blutdruck und leuchtet in die Augen, legt ein schnelles EKG an und pocht mit einem Hämmerchen auf Tornemanns Knie, die nicht zucken.
Das werden wir alles erst untersuchen müssen. CT, Röntgen. Dann kann man was sagen. Jetzt nicht.
Hanns nickt und macht sich auf den Weg. Ich wohne eine Etage drunter, wenn es gewünscht wird. Grabowski. Hanns Grabowksi. Dann geht er und lässt die Tornemanns und ihre Retter allein. Fünf Minuten später liegt er wieder auf dem Bett und denkt an Veronika. Überlegt, ob er sie nachher anrufen und ihr diese Geschichte erzählen soll. Früher hat sie es gemocht, wenn er ihr Geschichten erzählt hat, die so absurd waren, dass man sich daran festhalten konnte. Die einem das eigene kleine Leben plötzlich attraktiv erscheinen lassen.
Ist doch ein guter Tag. Hanns dreht sich um und drückt auf Play. Ich bin nicht unter einem Schrank gelandet. Rammstein,
Ein Mensch brennt
. Hanns fängt an mitzusingen. In drei Tagen kommt Daniel, und dann wird man weitersehen. Bis dahin kann er ganz normal seine Arbeit tun. Ganz normal.
|232| 19. Kapitel
Schon bei der Zugfahrt zurück in die Stadt überlegt Veronika, ob sie sich Daniel einmal anschauen sollte. Irgendwo wird sie doch in den Sachen von Hanns einen Hinweis finden, wie der Junge mit Nachnamen heißt. Vielleicht eine Adresse oder eine Telefonnummer. Wenn ich ein Muttermal hätte, irgendwo im Gesicht oder auf der Hand, so eins, das man sieht, dann könnte man nach dem Beweis suchen. Bei diesem Gedanken kommt sie sich aber so dumm vor, dass sie sich hinter der Zeitung versteckt. Es ist doch besser, alles Hanns zu überlassen. Er wird ihr die Wahrheit sagen, wenn er sie herausbekommt.
Weitere Kostenlose Bücher