Lokale Erschuetterung
Abgeordnete das auch so sehe. Dass er in der falschen Partei sei. Ob er nur der Not gehorche. Der Wirt schüttelt den Kopf und sagt, nein, mehr als CDU sei bei dem wohl nicht drin. Der mache das schon aus Überzeugung und habe extra fürs Mandat zu Gott gefunden, den er ja vorher vierzig Jahre lang nicht gebraucht hätte. Trotzdem müsse man anerkennen, dass er hier das eine und andere bewegt hat.
Und den haben Sie besucht in Berlin?
War eine schräge Veranstaltung, das kann ich Ihnen sagen. Erst führen sie einen durch die ganzen hohen Häuser, eine Halle des Volkes nach anderen kriegt man da zu sehen. Dann sitzt man in dem kleinsten Raum von allen und lässt sich von dem Abgeordneten noch eine Runde erzählen. Und dann gibt es Essen in einem Restaurant mit lauter bunten Lampen und Blick auf die Spree.
Paul-Löbe-Haus, sagt Veronika, und der Wirt nickt.
Genau. Man guckt auf die Spree, sitzt mit einem deutschen Abgeordneten an einem deutschen Fluss und redet über Deutschland. Ist doch schön, oder?
Dazu lässt sich nur wenig sagen.
Hanns beugt sich zum Wirt und sagt: Ich zahl dann mal. Sag mir, was du kriegst.
So also. Man ist beim Du, die kennen sich wirklich schon gut hier in der Scharfen Ecke. Veronika fühlt sich düpiert. Dieses Wort fällt ihr ein, hier in der Kneipe. Düpiert. Aber hätte sich Hanns in den Ratskeller einmieten |222| sollen? Zu den Leuten, die sie da vorhin gesehen haben? Oder soll er mit den telefonierenden Menschen auf dem Marktplatz Freundschaft schließen?
Hanns legt ihr eine Hand auf den Rücken, drückt leicht mit dem Daumen und schiebt sie sanft weg vom Tresen und hin zur Tür. Komm, mein Engel, sagt er und grinst. Zeit, schlafen zu gehen. Der Stiernacken dreht noch einmal den Kopf, und sein Hund tut es ihm nach. Mann und Hund schauen Veronika und Hanns an, als gäbe es doch noch etwas zu besprechen. Dann wenden sie sich ab, und Veronika stolpert über die Schwelle nach draußen. Hat sich nicht merken können, dass man hier den Fuß hebt.
|223| 18. Kapitel
Hanns vermisst Veronika von dem Moment an, da sie in den Zug steigt und zurück in die Stadt fährt. Er steht auf dem Bahnsteig und sieht ihr dabei zu, wie sie einen Platz am Fenster sucht, sich hinsetzt, noch einmal aufsteht und zur Wagentür kommt. Da stehen sie, auf Augenhöhe zwar, aber die eine schon fort und der andere genagelt. Veronika wickelt eine Strähne um ihren Zeigefinger. Zupft und zieht daran, bis Hanns eingreift und ihre Hand nimmt.
Hör auf, dir die Haare zu raufen, sagt er, wir sehen uns ja wieder. In zwei Wochen komme ich nach Berlin, und dann sehen wir zu, dass die Abstände kurz bleiben.
Veronika nickt, und Hanns ist sich überhaupt nicht sicher, ob das ihr Problem ist. Ob es ihr überhaupt etwas ausmacht, wegzufahren, oder ob es ihr jetzt einfach nur nicht schnell genug geht.
Rufst du mich an, wenn du Daniel getroffen hast?
Natürlich rufe ich dich an. Was glaubst du. Ich rufe dich sofort an, wenn ich ihn gefragt habe. Noch in der gleichen Nacht.
Und wenn er es ist?
Hau ich ihm zuerst eine runter, setz ihn dann ins Auto und fahr ihn zu dir.
Veronika stellt sich vor, wie es sein wird, wenn Hanns mitten in der Nacht mit ihrem Sohn vor der Tür steht. Einem erwachsenen Mann. Wenn er den fremden Mann in die Wohnung schubst und sagt: Darf ich dir deine Mutter vorstellen, Daniel. Veronika, hier ist dein Sohn.
|224| Vielleicht sollte sie sicherheitshalber eine Suppe kochen. Auf Vorrat. Und Wein kaufen. Auf Vorrat. Und sich von ihrem Vater das Fotoalbum schicken lassen. Auf Vorrat.
Der Schaffner kommt vorbei und signalisiert Veronika, dass gleich die Türen geschlossen werden. Es ist der von der Hinfahrt.
Der könnte auch mein Sohn sein, flüstert Veronika und beugt sich noch einmal zu Hanns. Auf der Hinfahrt habe ich gedacht, er könnte es sein. Ein Schaffner. Was meinst du? Wär doch lustig, wenn ich einen Schaffner in die Welt geschubst hätte. Obwohl der hier viel zu jung ist. Ist doch höchstens Anfang zwanzig, oder?
Hanns schaut Veronika an, und sie kann sehen, dass er sich Sorgen macht. Um sie. Um ihren Kopf. Dass er sich fragt, ob sie überhaupt noch bei Sinnen ist. Ob man sie allein lassen kann oder besser mitfährt.
Wo ist er denn überhaupt geboren? Wo hast du denn entbunden? Das will Hanns jetzt wissen, und langsam schließt sich die Wagentür.
In der Kreisstadt. Nicht in dem Kaff, in dem ich geboren bin. Da hätten es ja alle Leute erfahren. Veronika schiebt den letzten Satz noch
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