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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Nabokov
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der Gedächtniskünstler nicht verschmähen.

27
    Mein Briefkasten im Hauseingang war einer von denen, die einem durch einen verglasten Schlitz etwas von seinem Inhalt zu erkennen geben. Mehrmals schon hatte eine Harlekinade des Lichts, das durch das Glas auf irgend jemandes fremde Handschrift fiel, ihre Züge denen der Handschrift Lolitas ähnlich gemacht und mich, der ich an einer danebenstehenden Urne - fast meiner eigenen - lehnte, einer Ohnmacht nahegebracht. Immer wenn das geschah - immer wenn ihr hübsches, schleifenreiches, kindliches Gekritzel sich abscheulich in die langweilige Schrift eines meiner wenigen Briefpartner verwandelte -, entsann ich mich mit qualvoller Belustigung der Male in meiner vertrauensseligen, prä-dolorischen Vergangenheit, da mich ein gegenüberliegendes juwelenglänzendes Fenster genarrt hatte, in dem mein lauerndes Auge, das immer wachsame Periskop meines schändlichen Lasters, von weitem den Umriß eines halbnackten Nymphchens zu erkennen meinte, erstarrt in dem Augenblick, da es sein Alice-im-Wunderland-Haar kämmt. In dem feurigen Trugbild lag eine Vollkommenheit, die meine wilde Verzückung gleichfalls vollkommen machte, eben weil die Vision außer Reichweite war, weil keine Möglichkeit der Aneignung bestand, die sie durch das Bewußtsein eines auf ihr lastenden Tabus hätte verderben können; wer weiß, vielleicht beruht die Anziehungskraft, die die Unreife für mich besitzt, nicht so sehr auf dem offenbaren Liebreiz reiner, junger, verbotener Feenkindschönheit als vielmehr auf der Sicherheit einer Situation, in der eine unbegrenzte Vollkommenheit die Lücke zwischen dem kleinen Gegebenen und dem großen Verheißenen ausfüllt - dem großen rosagrauen Nie-zu-Erlangenden. Mes fenêtres! Da hing ich über einem wolkigen Sonnenuntergang und einer heraufflutenden Nacht, knirschte mit den Zähnen und drängte alle Dämonen meiner Begierde gegen das Geländer des bereits vibrierenden Balkons: Noch einen Augenblick, und dieser erhöbe sich in den feuchten, schwarzen und aprikosenfarbenen Abend; er erhob sich - und das erleuchtete Bild im fernen Fenster kam wieder in Bewegung, Eva wurde erneut zur Rippe, und im Fenster war nur noch ein dicker, halbbekleideter Mann zu sehen, der die Zeitung las.
    Da ich den Wettlauf meiner Phantasie mit der Wirklichkeit bisweilen gewann, war die Täuschung erträglich. Unerträglicher Schmerz entstand, wenn der Zufall sich einmischte und mich des Lächelns beraubte, das mir zugedacht war. «Savez-vous qu'à dix ans ma petite était folle de vous?» fragte eine Dame, mit der ich auf einer Teegesellschaft in Paris ins Plaudern gekommen war, und die petite hatte viele Meilen weit weg gerade geheiratet, und ich konnte mich nicht einmal mehr entsinnen, ob ich sie vor einem Dutzend Jahren in jenem Garten, neben jenen Tennisplätzen überhaupt bemerkt hatte. Und nun war es ebenso; den strahlenden allerersten Anblick, den Vorgeschmack der Wirklichkeit, ein nicht nur verführerisch vorgetäuschtes, sondern nobel gehaltenes Versprechen, alles dies versagte mir der Zufall - der Zufall und die kleiner gewordene Handschrift der geliebten, blassen Absenderin. Meine Phantasie war beides: proustianisiert und prokrustianisiert, denn als ich an diesem besonderen Morgen, Anfang September 1952, heruntergekommen war, um mir meine Post zu greifen, begann der adrette und gallige Hauswart, mit dem ich auf miserablem Fuß stand, sich zu beklagen, daß irgendein Kerl, der Rita kürzlich nach Hause gebracht hatte, sich auf der Vordertreppe «wie ein Hund» übergeben habe. Während ich zuhörte, ihm ein Trinkgeld gab und daraufhin eine revidierte, höflichere Darstellung des Zwischenfalls zu hören bekam, stand ich unter dem Eindruck, daß einer der Briefe, die diese verflixte Post mir gebracht hatte, von Ritas Mutter sei, einer überkandidelten kleinen Frau, die wir einmal auf Cape Cod besucht hatten und die nicht davon abließ, mir an meine verschiedenen Adressen zu schreiben, wie wundervoll ihre Tochter und ich doch zusammenpaßten und wie wundervoll es wäre, wenn wir hei-rateten; der andere Brief, den ich öffnete und im Fahrstuhl schnell überflog, war von John Farlow.
    Ich habe oft beobachtet, daß wir dazu neigen, unsere Freunde mit der nämlichen Wesensbeständigkeit auszustatten, die literarische Gestalten in der Vorstellung des Lesers erlangen. Einerlei, wie oft wir König Lear auch aufschlagen, nie werden wir den guten König dabei antreffen, wie er seinen drei

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