Lolita (German)
richtig geschlossen. Auf dem Boden lagen ein Pullover und ein Paar formloser Uniformhosen. Wir rüttelten ihren Besitzer so lange, bis der Unglückliche wieder zu Bewußtsein kam. Er hatte total das Gedächtnis verloren. Mit einem Akzent, den Rita als reines Brooklyn-Amerikanisch identifizierte, behauptete er beleidigt, wir hätten ihm irgendwie seine (wertlose) Identität entwendet. Wir halfen ihm eilig in seine Sachen und gaben ihn im nächsten Krankenhaus ab; auf dem Weg dorthin wurde uns klar, daß wir nach allerlei bereits vergessenem Herumkurven in Grainball gelandet waren. Ein halbes Jahr später schrieb Rita an den Arzt und bat um Nachricht. Jack Humbertson, wie man den Unbekannten geschmackloserweise tituliert hatte, war noch immer von seiner persönlichen Vergangenheit ausgeschlossen. O Mnemosyne, süßeste und mutwilligste der Musen!
Ich hätte diesen Vorfall nicht erwähnt, wäre er nicht Anlaß zu einer Ideenkette gewesen, als deren Ergebnis ich in der Cantrip Review einen Essay über Mimir und Memoria veröffentlichte, in dem ich neben anderem, was den geneigten Lesern dieser vorzüglichen Zeitschrift wichtig und originell vorkam, eine Theorie der auf einem «Sinn für den Blutkreislauf» beruhenden «wahrnehmbaren Zeit» entwickelte, die (um diese Nußschale vollzumachen) davon ausging, daß der Geist sich nicht nur der Materie, sondern auch seiner selbst bewußt ist und damit eine dauernde Wechselbeziehung zwischen zwei Punkten erzeugt (der zu speichernden Zukunft und der gespeicherten Vergangenheit). Auf diesen Artikel hin - und als Krönung des Gedenkens an meine früheren Arbeiten, die ebenfalls nicht unbemerkt geblieben waren - wurde ich auf ein Jahr an das Cantrip College berufen - vierhundert Meilen von New York entfernt, wo Rita und ich in einem kleinen Apartment wohnten, von dem aus man beobachten konnte, wie glitzernde Kinder tief unten in einem an Springbrunnen reichen Hain des Central Park Brausebäder nahmen. Im Cantrip College hauste ich von September 1951 bis Juni 1952 in einer der eigens für Dichter und Philosophen bestimmten Wohnungen, während Rita, die ich lieber nicht vorzeigen wollte, ihr Dasein - recht unschicklich, fürchte ich - in einer Touristenherberge fristete, wo ich sie zweimal die Woche besuchte. Dann verschwand sie - auf eine menschlichere Art als ihre Vorgängerin: Einen Monat später fand ich sie im städtischen Gefängnis. Sie war tresdigne, hatte sich den Blinddarm herausnehmen lassen und schaffte es, mich davon zu überzeugen, daß der schöne bläuliche Pelz, den sie laut Anklage einer Mrs. Roland MacCrum gestohlen haben sollte, in Wirklichkeit ein spontanes, wenn auch nicht ganz nüchternes Geschenk von Roland persönlich gewesen sei. Es gelang mir, sie freizubekommen, ohne ihren heiklen Bruder einzuschalten, und bald darauf fuhren wir auf unsere westliche Seite des Central Park zurück - und zwar über Briceland, wo wir uns auch im Jahr davor ein paar Stunden lang aufgehalten hatten.
Ein merkwürdiges Verlangen, meinen dortigen Aufenthalt mit Lolita noch einmal zu durchleben, hatte von mir Besitz ergriffen. Ich war in eine Phase meines Lebens gelangt, da ich alle Hoffnung aufgegeben hatte, sie und ihren Kidnapper noch aufzuspüren. Mir lag jetzt nur daran, die alten Stätten wiederzusehen, um zu retten, was mit Hilfe der Erinnerung noch zu retten war - in der Art Souvenir,. souvenir que me veux -tu ? Der Herbst ließ die Luft erklingen. Auf eine Postkarte hin, mit der Professor Hamburg um ein Doppelzimmer mit zwei Betten bat, bekam er postwendend Antwort. Man bedauerte. Es sei nichts mehr frei. Sie hätten nur noch ein Vier-Bett-Zim-mer ohne Bad im Kellergeschoß, das mir sicher nicht recht wäre. Der Briefkopf lautete:
Die verzauberten Jäger
Kirchen in der Nähe
Hunde nicht gestattet
Alle gesetzlich erlaubten Getränke
Ich fragte mich, ob die letzte Behauptung wohl zutreffe. Alle? Hatten sie zum Beispiel Grenadine, wie es ihn in Europas Straßencafes gibt? Ich fragte mich auch, ob ein Jäger, verzaubert oder auch nicht verzaubert, nicht eher einen Köter als einen Küster brauche, und mit einem Schmerzenskrampf gedachte ich der eines großen Malers würdigen Szene: petite nymphe accroupie; aber jener seidige Cocker-Spaniel war ja vielleicht getauft gewesen. Nein - der Qual, jene Hotelhalle wiederzusehen, wäre ich nicht gewachsen, fühlte ich. Es gab im sanften, vielfarbenen, herbstlichen Briceland viel bessere Möglichkeiten, die Vergangenheit
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