Lolita (German)
wirklicher als die echte; eine, die sich mit ihr überschnitt und sie umschloß; eine, die zwischen ihr und mir schwebte, willenlos, unbewußt - die gar kein eigenes Leben hatte.
Das Kind witterte nichts. Ich hatte ihm nichts angetan. Und nichts konnte mich hindern, ein Spiel zu wie-derholen, welches sie so wenig berührte, als wäre sie ein photographisches Bild, das über eine Projektionswand rieselt, und ich ein ärmlicher Buckliger, der im Dunkeln Hand an sich legt. Der Nachmittag zog sich in tiefer Stille immer länger hin, und die strotzenden hohen Bäume schienen Mitwisser zu sein; und noch stärker als zuvor begann mich die Begierde von neuem zu plagen. Laß sie bald kommen, flehte ich einen Lehngott an, und während Mama in der Küche ist, laß eine Wiederholung der Sofaszene stattfinden, bitte, ich bin so schrecklich scharf auf sie.
Nein, «schrecklich» ist das falsche Wort. Die gehobene Stimmung, in die der Vorgeschmack neuer Freuden mich versetzte, war nicht schrecklich, sondern rührend. Ich nenne sie rührend. Rührend-weil ich trotz der unstillbaren Glut meines sinnlichen Verlangens die Absicht hatte, die Reinheit dieses zwölfjährigen Kindes mit äußerster Willensstärke und Vorsorge zu schützen.
Und nun hören Sie nur, wie mir für meine Mühe gelohnt wurde. Keine Lolita kam nach Hause - sie war mit den Chatfields ins Kino gegangen. Der Tisch war mit größerer Eleganz als sonst gedeckt: Kerzenlicht, bitte schön. In dieser affektierten Aura spielte Mrs. Haze zart mit dem Silber zu beiden Seiten ihres Tellers, als wären es Klaviertasten, lächelte auf ihren leeren Teller hernieder (sie fastete gerade) und sagte, hoffentlich schmecke mir der Salat (Rezept aus einer Frauenzeitschrift entwendet). Sie hoffte des ferneren, daß mir das kalte Rindfleisch ebenfalls schmecke. Es sei ein herrlicher Tag gewesen. Mrs. Chatfield sei eine fabelhafte Frau. Phyllis, ihre Tochter, fahre morgen in ein Sommercamp. Auf drei Wochen. Lolita, so sei es abgemacht, fahre Donnerstag. Anstatt bis Juli zu warten, wie ursprünglich geplant, Und sie werde länger als Phyllis bleiben. Bis zum Schulanfang. Eine feine Aussicht, mein Herz.
Oh, wie war ich bestürzt - denn hieß es nicht, daß ich meinen Schatz verlor, kaum daß ich ihn mir insgeheim zu eigen gemacht hatte? Um meine finstere Laune zu erklären, mußte ich die Zahnschmerzen benutzen, die ich schon am Morgen vorgeschützt hatte. Muß ein enormer Backenzahn gewesen sein, mit einem Abszeß so dick wie eine Maraschino-Kirsche.
«Wir haben einen ausgezeichneten Zahnarzt», sagte die Haze. «Unser Nachbar übrigens, Dr. Quilty. Der Onkel oder Vetter von dem Dramatiker, glaube ich. Sie meinen, es wird sich schon geben? Ganz wie Sie wollen. Im Herbst soll er Lo , wie meine Mutter immer sagte. Das könnte sie ein bißchen zügeln. Ich fürchte, sie ist Ihnen in letzter Zeit schrecklich auf die Nerven gefallen. Und nun stehen uns noch ein paar stürmische Tage bevor, ehe sie abdampft. Sie hat sich glatt geweigert zu fahren, und ich gestehe, ich habe sie bei den Chatfields gelassen, weil mir davor graute, es mit ihr auszufechten, solange sie in dieser Stimmung ist. Vielleicht besänftigt sie der Film. Phyllis ist ein sehr liebes Mädchen, und es gibt überhaupt keinen Grund, warum Lo sie nicht mögen sollte, Wirklich, Monsieur, Ihr Zahn tut mir sehr leid. Es wäre wirklich viel vernünftiger, wenn Sie mich gleich morgen früh bei Ivor Quilty anrufen ließen, falls Sie dann noch Schmerzen haben. Und ein Sommercamp ist meines Erachtens gesünder, wissen Sie, und - na, viel vernünftiger , sage ich immer, als auf einem Vorortrasen die Zeit zu vertrödeln, Mamas Lippenstift zu benutzen, zurückhaltenden, geistig beschäftigten Herren nachzulaufen und beim leisesten Widerspruch eine Szene zu machen.»
«Sind Sie sicher», sagte ich endlich, «daß sie dort nicht unglücklich sein wird?» (Lahm, kläglich lahm!)
«Das will ich doch wohl hoffen», sagte die Haze. «Allerdings wird es nicht der reine Spaß. Shirley Holmes - Sie wissen, die Frau, die Das Lagerfeuer-Mädchen geschrieben hat - leitet das Camp. Das Lagerleben wird Dolores Haze in vielem weiterbringen - gesundheitlich, wissensmäßig, emotional. Und vor allem in ihrem Verantwortungsgefühl anderen gegenüber. Wollen wir die Leuchter mitnehmen und ein bißchen auf der Piazza sitzen, oder wollen Sie zu Bett gehen und etwas gegen die Zahnschmerzen tun?»
Etwas gegen die Zahnschmerzen tun.
15
Am
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