Lolita (German)
schon machen?), und ich wünsche nicht, Sie im Hause anzutreffen. Bitte, bitte, gehen Sie gleich, jetzt, lesen Sie nicht einmal diesen törichten Wisch zu Ende. Gehen Sie. Adieu.
Die Lage ist ganz einfach, chéri. Natürlich weiß ich mit absoluter Gewißheit, daß ich Ihnen nichts, überhaupt nichts bedeute. Oja, es macht Ihnen Vergnügen, sich mit mir zu unterhalten (und mich Arme zu necken), Sie haben unser gastfreundliches Heim und die Bücher, die ich gern habe, liebgewonnen und meinen schönen Garten und sogar Los lärmendes Wesen - aber ich bedeute Ihnen nichts. Stimmt's? Stimmt. Nicht das geringste. Sollten Sie als düsterer europäischer Romantiker aber nach der Lektüre meines «Geständnisses» finden, ich sei reizvoll genug, daß es sich lohne, Vorteil aus meinem Brief zu ziehen und eine Liebschaft mit mir anzufangen, wären Sie ein Verbrecher - schlimmer als ein Kidnapper, der ein Kind vergewaltigt. Sie verstehen, chéri? Falls Sie sich zum Bleiben entschließen, falls ich Sie noch im Hause vorfinde (ich weiß, es wird nicht so sein, und daher bin ich imstande weiterzuschreiben), dann kann Ihr Bleiben nur eines bedeuten: daß Sie mich ebenso wollen wie ich Sie, als Partner auf Lebenszeit; und daß Sie bereit sind, Ihr Leben für immer mit dem meinen zu verbinden und meinem kleinen Mädchen ein Vater zu sein.
Lassen Sie mich noch ein bißchen schwärmen und schweifen, Liebster, da ich doch weiß, daß Sie diesen Brief bereits zerrissen haben und seine Fetzen im Wasserstrudel der Toilette [unleserlich], Mein Teuerster, mon tres, tres eher, welch eine Welt der Liebe habe ich in diesem wundersamen Juni für Sie errichtet! Ich weiß, wie zurückhaltend Sie sind, wie «britisch». Für Ihre europäische Reserve, für Ihr Anstandsgefühl ist vielleicht die Direktheit eines amerikanischen Mädchens ein Schock. Sie, der Sie Ihre stärksten Gefühle verbergen, müssen mich für eine schamlose kleine Idiotin halten, daß ich Ihnen mein armes, versehrtes Herz so weit offenlege. Frühere Jahre haben mir manche Enttäuschung gebracht. Mr. Haze war ein hervorragender Mensch, eine goldene Seele, aber er war nun einmal zwanzig Jahre älter als ich und - doch nein, wir wollen die Vergangenheit nicht ins Gerede bringen. Mein Liebster, Ihre Neugier muß nun wohl voll und ganz befriedigt sein, wenn Sie meine Bitte mißachtet und den Brief bis zum bitteren Ende gelesen haben. Macht nichts. Vernichten Sie ihn und gehen Sie. Vergessen Sie nicht, den Schlüssel auf den Schreibtisch in Ihrem Zimmer zu legen. Und einen Zettel mit Ihrer Adresse, damit ich die zwölf Dollar erstatten kann, die ich Ihnen für den Rest des Monats schulde. Leben Sie wohl, Lieber. Beten Sie für mich - wenn Sie je beten.
C.H.
Was ich Ihnen hier vorgelegt habe, ist das, was mir von dem Brief in Erinnerung geblieben ist, und was mir in Erinnerung geblieben ist, ist mir wörtlich in Erinnerung geblieben (das grauenhafte Französisch einbegriffen). Er war mindestens doppelt so lang. Ich habe eine lyrische Stelle ausgelassen, die ich damals mehr oder weniger übersprang und die Lolitas Bruder betraf, der mit zwei starb, als sie vier war, und wie gern ich ihn gehabt hätte. Was stand noch drin? Ach ja. Es wäre möglich, daß der «Wasserstrudel der Toilette» (wo der Brief wirklich landete) meine eigene prosaische Zutat ist. Sie bat mich wahrscheinlich, ihn von den Flammen eines eigens dafür entfachten Feuers verzehren zu lassen.
Meine erste Regung war Abscheu und der Wunsch auszurücken. Meine zweite war wie die ruhige Hand eines Freundes, die sich mir auf die Schulter legte und mir riet, nichts zu überstürzen. Ich gehorchte. Ich erwachte aus meiner Betäubung und merkte, daß ich immer noch in Los Zimmer war. Eine ganzseitige Anzeige, aus einer Hochglanzillustrierten herausgerissen, war über ihrem Bett an der Wand befestigt, zwischen der Visage eines Schlagersängers und den Wimpern einer Filmschauspielerin. Es zeigte einen jungen Ehemann mit dunklem Haar und entkräftetem Blick in seinen irischen Augen. Er posierte für einen Schlafrock der Firma Soundso und hielt ein brückenartiges Tablett von Soundso mit Frühstück für zwei in der Hand. Der Bildtext, verfaßt von Reverend Thomas Morell, nannte ihn einen «Bezwinger». Die gründlich bezwungene Dame (nicht zu sehen) stopfte sich vermutlich gerade Kissen in den Rücken, um ihre Tabletthälfte entgegenzunehmen. Wie ihr Bettgenosse ohne zu plempern unter das Brückentablett gelangen wollte,
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