London Boulevard - Kriminalroman

schlich sich an und überkam mich mitten in meinen Gedanken.

I ch wachte erst spät abends wieder auf. Ein Hauch von Vorahnung hing in der Luft. Ich machte Kaffee, nahm einen großen Schluck. Drehte eine Zigarette und rauchte sie auf dem Bett. Sie schmeckte so alt, wie ich allmählich wurde. Ich duschte und zog ein frisches weißes Hemd und Jeans an. Warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Wie George Michaels Vater vor dem Zwischenfall auf der Toilette.
    Das Telefon klingelte, die Schauspielerin sagte:
    »Wir haben dich vermisst, Mitchell.«
    »Tja, da bin ich wieder.«
    »Ich habe eine Überraschung für dich.«
    »Bin auf alles gefasst.«
    »Wie bitte?«
    »Schon unterwegs.«
    »Du wirst nicht enttäuscht sein.«
    In meinem Becher waren noch zwei Zentimeter Kaffee, also suchte ich die Flasche Scotch und schenkte großzügig zwei Zentimeter drauf. Zum Abschluss. Kippte das Gemisch schnell runter. Schmeckte nach mehr, aber ich wollte es langsam angehen.
    Lillian wartete im Salon. Jemand war fleißig gewesen, alle Möbel waren hinten zusammengeschoben. Die Teppiche aufgerollt. Der Holzboden glänzte. In der Mitte befand sich eine kleine Bühne, von einem einzigen Scheinwerfer beleuchtet. Ich dachte: »Ach, du Scheiße.«
    Ein einzelner Stuhl stand vor der Bühne. Daneben ein Sekretär mit einer Auswahl an Spirituosen. Ich setzte mich, beäugte die Flaschen und sah einen Johnnie Walker. Schenkte mir einen deftigen Schluck ein. Ich würde ihn brauchen.
    Klassische Musik ertönte, das Licht wurde gedämpft.
    Jordan betrat die Bühne in einem schwarzen Anzug mit Fliege. Er verkündete:
    »Es ist mir ein Vergnügen, die Rückkehr von Lillian Palmer bekanntgeben zu dürfen. Heute Abend wird sie ein kurzes Stück von D. H. Lawrence zu Gehör bringen, ihr Klagelied an ein längst verlorenes England.«
    Ich fühlte mich ebenfalls verloren. Hastig trank ich den Scotch. Jordan verneigte sich und trat ab. Falls er mit Applaus gerechnet hatte, würde er lange warten müssen.
    Kein Geräusch, das auch nur annähernd nach Klatschen klang.
    Dann erschien sie. Sie trug eine Art hauchdünnen Sari. Ich konnte ihre Titten deutlich erkennen. Sie senkte den Kopf. Fing langsam an:
    »Es ist England, mein Gott, es bricht mir das Herz. Dieses England, diese Giebelfenster, diese Ulmen, diese Vergangenheit - diese großartige Vergangenheit, die nicht etwa dem gewaltigen Ansturm herannahender Vögel weicht, sondern unter dem Gewicht welker Blätter zusammenbricht. Nein, ich kann es nicht ertragen. Denn der lange Winter liegt vor uns, in dem es keine Visionen mehr gibt und die Erinnerung abstirbt. Ich kann es nicht ertragen, die Vergangenheit, die niedergehende, verschwindende, zerfallende Vergangenheit, so großartig, so hervorragend.«
    Ich klinkte mich aus. Vielleicht döste ich sogar ein. Der Johnnie Walker musste erhebliche Verluste hinnehmen. Endlich kam sie zum Ende. Ich stand wankend auf und schrie:
    Bravo.
    Magnifique .
    Ja, Fußball ist unser Leben!
    Bevor ich wusste, was ich tat, stand ich auf der Bühne und riss ihr die Kleider vom Leib. Es war
    schweißtreibend
    laut
    heftig.
    Dunkel erinnere ich mich, dass sie mir ihre Zähne in den Hals schlug und ich schrie:
    »Du verfluchter Vampir!«
    Danach lag ich keuchend auf dem Rücken, rang nach Luft. Sie sagte:
    »Darf ich annehmen, dass dir meine Vorstellung gefallen hat?«
    Welche?
    Ich kauerte mich zusammen, verlor das Bewusstsein.
    Jemand zog an mir und ich versuchte, ihn wegzustoßen.
    Irgendwann setzte ich mich auf. Jordan stand über mich gebeugt, sagte:
    »Draußen ist etwas, das Sie sich ansehen sollten.«
    »Jetzt?«
    Ich versuchte, meine Armbanduhr zu entziffern. Dauerte eine Weile.
    Viertel vor vier.
    »Gott«, stöhnte ich, »kann das nicht warten?«
    »Es ist von absoluter Dringlichkeit.«
    Ich schüttelte den Kopf. Großer Fehler. Ein ausgewachsener Kopfschmerz, von meinem rebellierenden Magen einmal ganz abgesehen. Als Jordan an der Tür war, sagte er:
    »Möglicherweise wäre es keine schlechte Idee, wenn Sie sich ankleiden würden.«
    Unter Schmerzen zog ich meine Jeans und das zerknitterte weiße Hemd an. Dann übergab ich mich.
    Jordan strahlte mich mit der Taschenlampe an. Er nickte und ging raus. Die Nacht war stockfinster. Er überquerte den Rasen und machte an der Ulme halt. Wartete, bis ich ihn eingeholt hatte. Er sagte:
    »Fertig?«
    »Wofür?«
    Er warf einen grellen Lichtstrahl ins Blätterwerk. Billy Norton hing an einem kräftigen Ast. Ein schwarzes,