London NW: Roman (German Edition)
seinem Gegenüber im anderen Zug. Eine kleine Frau, die er für eine Jüdin hielt, ohne konkrete Gründe dafür zu haben: dunkelhaarig, hübsch, in sich hineinlächelnd, blaues Siebzigerjahre-Kleid – ein großer Kragen, mit kleinen weißen Vögeln bedruckt. Stirnrunzelnd betrachtete sie sein T-Shirt. Versuchte, es zu entziffern. Ihm war einfach danach: Er lächelte! Ein breites Grinsen, das seine Grübchen betonte und drei Goldzähne sehen ließ. Das schmale, dunkle Gesicht der jungen Frau zog sich zusammen wie ein Einkaufsnetz. Ihr Zug fuhr weiter und seiner auch.
(W1)
»Bist du Felix? Hi! Super! Du bist Felix!«
Er wartete vor dem Topshop. Ein großer, schlaksiger, junger Weißer mit ewig langem hellbraunem Pony, der ihm ins Gesicht hing. Röhrenjeans, eckige schwarze Brille. Offensichtlich brauchte er einen Moment, um sich zu sortieren, den Felix ihm gerne ließ. Er holte seinen Tabak aus der Tasche und drehte sich eine, und der Junge sagte derweil: »Tom Mercer – es ist gleich hier um die Ecke. Also, ein paar Straßen weiter«, und lachte dabei, um sein Erstaunen zu überspielen. Felix wusste selbst nicht, warum seine Stimme am Telefon oft so irreführend wirkte.
»Wollen wir? Ich meine, kannst du das auch im Gehen?«
»Mit einer Hand und im Laufschritt, bruv. «
»Ha. Klasse. Hier lang.«
Aber er schien nicht recht zu wissen, wie er sich durch das Eckgewühl zwischen Oxford und Regent Street schlängeln sollte: Nach ein paar Fehlstarts war er ein gutes Stück weiter zurück als vorher. Felix leckte sein Zigarettenpapier an und sah zu, wie der Junge einem Peruaner mit einem dreieinhalb Meter hohen Schild auswich: TEPPICHE IM SONDERANGEBOT, 100 METER . Kein Londoner, zumindest kein echter, dachte Felix, der selbst einmal in Wiltshire gewesen und völlig verblüfft zurückgekehrt war. Er ging voran und übernahm das Kommando, drängte sich mitten hinein in eine Gruppe junger Inderinnen mit glänzenden schwarzen Pferdeschwänzen und kleinen goldenen Selfridges-Buttons an den Jackenaufschlägen. Sie schwammen gegen den natürlichen Strom, Felix und der junge Weiße – es dauerte fünf Minuten, bis sie die Straße überquert hatten. Verkatert, lautete Felix’ Diagnose. Aufgesprungene Lippen, Panda-Augen. Eine gewisse Lichtempfindlichkeit.
Felix setzte an: »Hast du sie schon lange oder ...?«
Der Junge wirkte erschrocken. Er fuhr sich mit der Hand durch den Pony.
»Ob ich ...? Ach so, klar. Nein. Ich meine, ich habe sie vor ein paar Jahren geschenkt gekriegt, zum Einundzwanzigsten – gebraucht, von meinem Vater – der hatte sie ziemlich lange ... Kein besonders praktisches Geschenk. Aber du bist ja Fachmann – du wirst nicht so viele Probleme damit haben.«
»Mechaniker.«
»Genau. Mein Vater kennt deine Werkstatt. Er hat seit dreißig Jahren solche Karren, oder sogar noch länger, er kennt sämtliche Spezialwerkstätten. Kilburn, oder?«
»Ja.«
»Das ist so grob die Notting-Hill-Gegend, oder?«
»Nee, nicht ganz.«
»Aha, also, Felix? Wir biegen hier jetzt links ab. Raus aus diesem Chaos.«
Sie verdrückten sich in eine kopfsteingepflasterte Seitenstraße. Fünfzig Meter weiter, auf der Oxford Street, drängte sich Mensch an Mensch, so dicht wie beim Karneval und fast ebenso laut. Hier hinten war alles still und leer. Glänzende schwarze Türen, Messingknäufe, Messingbriefkästen, Laternenpfähle wie aus dem Märchen. Alte Gemälde in aufwendigen Goldrahmen auf Staffeleien, zur Straße gedreht. PREIS AUF ANFRAGE . Damenhüte, jeder auf seiner eigenen Stange, gefiedert, bereit zum Abheben. BITTE KLINGELN . Laden an Laden und kein Mensch darin. Ganz am Ende der kleinen Reihe entdeckte Felix hinter glitzernden Milchglasscheiben einen Kunden, der auf einem Lederhocker saß und eine dieser grünen Jacken anprobierte, gewachst wie eine Tischdecke, mit Karofutter. Auf der Hälfte wurde das Fensterglas klar und ließ ein breites, rotes Gesicht sehen, mit weißen Haarbüscheln hier und da, vor allem in den Ohren. Felix sah solche Typen ständig, vor allem in diesem Viertel. Eine ganze Kolonie. Nicht allzu kontaktfreudig – hielten sich eher an ihresgleichen. THE HOUSE AND HARE .
»Gutes Pub, das da«, sagte Felix. Um etwas zu sagen.
»Mein Vater schwört drauf. Wenn er in London ist, ist das sein Wohnzimmer.«
»So. Ich hab mal hier in der Gegend gearbeitet, lange her. Da war ich noch beim Film.«
»Ehrlich? Bei welcher Firma denn?«
»Ach, überall. Wardour Street und so«, setzte Felix nach
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