London NW: Roman (German Edition)
Ich bin noch taufrisch. Ich bleibe dran an der Jugendsprache. Und ›ends-‹ heißt ›viel‹, ›sehr‹ oder auch ›echt‹. Eine Art Verstärkungspartikel. Ich bleibe dran. Es hilft natürlich, hier zu wohnen, da hört man die Jugend reden und kann sie ansprechen und nachfragen. Die schauen mich dann immer an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf, das kannst du dir ja denken.« Er seufzte. Nun folgte die schwierige Anschlussfrage, jedes Mal wieder gleich schwierig.
»Und der Kleine? Devon? Wie geht es ihm?«
Felix nickte, um Dank für die Frage zu signalisieren. Phil war der Einzige in der Siedlung, der überhaupt noch nach seinem Bruder fragte.
»Gut geht’s ihm, Mann. Er schlägt sich gar nicht schlecht.«
Schweigend überquerten sie den Rasen.
»Wenn die nicht wären, Felix, ich wäre längst weg, denke ich mir manchmal, garantiert. Dann würde ich nach Bournemouth ziehen, so wie die anderen alten Säcke.« Er klopfte mit dem Fingerknöchel an den Baum und bedeutete Felix, darunter stehen zu bleiben und nach oben zu sehen: ein alles umschließender Baldachin aus dichtem Laub, als stünde man unter dem Glockenrock einer Disney-Prinzessin. Zur Natur fiel Felix nie etwas ein. Er wartete.
»So ein bisschen Grün hat große Wirkung, Felix. Ganz große Wirkung. Besonders hier in England. Das brauchen sogar wir alteingesessenen Londoner, darum laufen wir ja ständig auf die Hampstead Heath, nicht wahr, wir sind verrückt danach. Auch unser kleiner Park hier ist unerlässlich. Dieses bisschen Grün. Im grünen Blätterschoß / Der Birke, wenn ihr Schatten dich umkühlt ... Na, was ist das? ›Ode an die Nachtigall‹! Ein ganz berühmtes Gedicht. Keats. Auch Londoner. Aber woher solltest du das kennen! Wer hätte es dir schon beibringen sollen? Du hast ja deine Musik, deinen Hip-Hop und deinen Rap – was ist da eigentlich der Unterschied? Das war mir immer schleierhaft. Ich muss auch ehrlich sagen, Felix, ich begreife dieses ganze Bling-Bling-Getue nicht – das kommt mir doch sehr rückschrittlich vor, eine solche Fixierung aufs Geld. Aber vielleicht steht das ja für etwas anderes – das weiß ich natürlich nicht. Na, wie auch immer, ich habe wenigstens noch meine Gedichte. Aber die musste ich mir selbst beibringen! Damals, wenn man da den Übertritt nicht schaffte, dann war’s das – raus aus dem Spiel. So war das damals. Alle Bildung, die ich habe, musste ich mir selbst aneignen. Mit dem Zorn darüber bin ich aufgewachsen. Aber so war das nun mal früher in England für unsereins. Und heute ist es noch genauso, es heißt nur anders. Das sollte dich auch zornig machen, Felix, wirklich!«
»Ich leb mehr so von Tag zu Tag.« Felix stupste Phil Barnes in die Seite. »Du bist so ’n richtiger alter Linker, Barnesy, ein richtiger Kommunist.«
Wieder Gelächter, er krümmte sich vor Lachen, stützte die Hände auf die Knie. Als er wieder hochkam, sah Felix Tränen in seinen Augen.
»Ja, das bin ich! Wahrscheinlich denkst du dir die meiste Zeit: Was redet der da eigentlich? Reine Propaganda! Was redet der da nur?« Seine Miene wurde matt und melancholisch. »Aber ich glaube eben noch an die Menschen, Felix. Ich glaube an sie. Nicht, dass es mir irgendwas gebracht hätte, aber so bin ich einfach. So bin ich.«
»Klar, Barnesy. Lass krachen, Mann«, sagte Felix und klopfte seinem alten Freund auf den Rücken.
Sie ließen die Siedlung hinter sich, gingen bergauf, Richtung Straße.
»Ich muss ins Lager, Felix. Nachmittagsschicht. Briefe sortieren. Wo musst du hin? Gehst du Richtung High Road?«
»Nee. Ich bin spät dran – ich muss in die Stadt. Am besten mit der Bahn. Oder erst mal mit dem Bus hier.«
Der hielt gerade direkt vor ihnen und öffnete seine Türen. Mrs Mulherne, die ebenfalls in Caldwell wohnte, zerrte ihre Einkaufstasche rückwärts aus der falschen Tür, der Rücken krumm, die Strumpfhose faltig um die dünnen Knöchel. Barnes eilte ihr zu Hilfe. Felix hatte das Gefühl, er sollte auch helfen. Sie fühlte sich so leicht an, als könnte sie jeden Moment wegfliegen. Frauen alterten anders. Mit zwölf war ihm Mrs Mulherne nur ein klein wenig zu alt vorgekommen, um noch was mit seinem Vater zu haben; jetzt hätte sie gut auch dessen Mutter sein können. Der Morgen-danach-Blick auf zwei kräftige rosa Beine, die, in ein verschlissenes Badetuch gehüllt, über den Flur zum Klo flitzten. Und keineswegs die Einzige. »Wie tapfer, dass Sie sich ganz allein um die vier Kleinen kümmern. Die
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