London NW: Roman (German Edition)
Schwarzen‹, nicht?«, sagte Phil und blieb erneut stehen, auf halbem Weg die Treppe hinunter, in nachdenklicher Haltung. Felix lehnte sich ans Geländer und wartete, obwohl er diesen Vortrag schon ziemlich oft gehört hatte. »Und damit meinen sie nicht die Jugendlichen aus dem schickeren Teil oben am Park, das sind immer nur Jugendliche, aber unsere, das sind ›junge Schwarze‹, unsere Arbeiterjugend ist grundsätzlich ›schwarz‹, ist das nicht furchtbar? Sie kommen hierher, Felix – ich wollte deinem Vater davon erzählen, aber ihn kümmert das nicht, du kennst ihn ja, er hat meistens sowieso nur Frauen im Kopf –, die Polizisten, sie kommen hierher und fragen nach unseren Kindern, natürlich nicht direkt nach unseren Kindern, ist ja klar, unsere Kinder sind alle längst aus dem Haus, aber nach den Kindern aus der Siedlung, sie wollen Informationen. Um ihre schönen großen Häuser am Park vor unseren Kindern zu bewahren! Eine Schande ist das, wirklich wahr. Aber für solchen Käse interessiert ihr euch ja nicht, was, Felix? Ihr wollt einfach Spaß haben. Und das ist ja auch ganz richtig. Da halte ich es doch mit Pink Floyd: Leave them kids alone. Das ist meine Meinung – meine Frau findet immer, ich hätte zu viele Meinungen, aber so ist das eben. All die Neuen hier, die wollen davon gar nichts wissen. Kaum auszuhalten ist das. Da gucken die ständig ihre Realityshows, lesen ihre Revolverblätter und diesen ganzen Mist. Einfach stillhalten und sich ein neues Handy kaufen – so sind die Leute hier heutzutage. Sie organisieren sich nicht mehr, sie sind nicht mehr politisch – früher, da hatte ich wenigstens noch gute Gespräche mit deiner Mutter. Richtig gute Gespräche, hochinteressant. Weißt du, sie hatte Unmengen interessanter Ideen. Natürlich ist mir klar, dass sie auch Probleme hatte, große Probleme. Aber sie besaß etwas, was den meisten Leuten fehlt, nämlich Neugier. Sie hat vielleicht nicht immer die richtigen Antworten gefunden, aber zumindest wollte sie die Fragen stellen. Das schätze ich bei Menschen. Wir haben uns immer ›Genosse‹ und ›Genossin‹ genannt – das brachte deinen Vater auf die Palme! Deine Mutter war wirklich eine hochinteressante Frau, mit ihr konnte ich reden – weißt du, Felix, man hat es schwer, wenn man sich für Ideen und dergleichen interessiert, für die Ideen und Philosophien der Vergangenheit – da hat man es hier in der Gegend schwer, jemanden zu finden, mit dem man wirklich reden kann, das ist ja die Tragik an der Sache, weißt du, wenn man mal drüber nachdenkt. Ich finde hier jedenfalls keinen mehr, mit dem ich reden könnte. Und als Frau hat man es natürlich noch schwerer. Da kann man sich schon sehr eingesperrt fühlen. Wegen dem Patriarchat. Ich finde wirklich, jeder braucht von Zeit zu Zeit so einen kleinen Gedankenaustausch. Ja, ja, hochinteressante Frau, deine Mutter, sehr feinsinnig. So jemand hat es schwer.«
»Hmm«, sagte Felix.
»Du klingst nicht sehr überzeugt. Sicher, ich habe deine Mutter kaum gekannt, ist ja klar ... Dein Vater lässt natürlich kein gutes Haar an ihr. Ich weiß ja auch nicht. Komplizierte Konstrukte, Familien. Wenn man zu dicht dran ist, sieht man nichts. Ich gebe dir ein Beispiel. Weißt du, diese Bilder, die dein Vater manchmal verkauft, mit den Punkten, aus denen dann ein geheimes Bild wird? Da siehst du auch nichts, wenn du zu dicht dran bist. Aber ich stehe sozusagen am anderen Ende des Zimmers. Da hat man eine ganz andere Perspektive. Als mein alter Herr damals im Heim war – ein Loch, sag ich dir, ein fürchterliches Loch – aber die Pflegerinnen dort haben mir manchmal Dinge über ihn erzählt, von denen hatte ich keinen Schimmer. Keinen blassen Schimmer. Die kannten ihn besser als ich. In mancher Hinsicht. Nicht in jeder. Aber trotzdem. Du weißt schon, was ich sagen will. Alles eine Frage des Kontexts.«
Unter einer gewaltigen Sonne, die groß und orange am Himmel hing, traten sie hinaus auf den gemeinschaftlichen Rasen.
»Und deine Schwestern, geht’s ihnen gut? Ich wette, man kann sie immer noch nicht auseinanderhalten.«
»Mann, die Mädels. Tia ist einfach nur verpeilt, aber Ruby ist endsfaul.«
»Das hast jetzt du gesagt! Nicht ich! Nur fürs Protokoll!« Phil kicherte und hob die Hände, wie um seine Unschuld zu beteuern. »Aber nur, damit ich das richtig verstehe: ›verpeilt‹ heißt so viel wie unorganisiert, stimmt’s? Ich glaube, das hast du mir beim letzten Mal erklärt. Siehst du?
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