London NW: Roman (German Edition)
ist Sie doch gar nicht wert, mein Lieber. Sie haben was Besseres verdient. Sie tun uns allen so furchtbar leid.« So drückten die Frauen von Caldwell ihr Mitgefühl aus. An der Bushaltestelle, im Wartezimmer, bei Woolworths. Wie ein Nummer-eins-Hit, der einem von Laden zu Laden folgt. »Er tut alles für die Kinder. Sterben würde er für die Kinder. Was man von ihr ja nun nicht behaupten kann.« Eine davon, Mrs Steele, arbeitete bei ihm in der Schulkantine. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, gab es großes Erröten – und eine Extraportion Pommes. Komisch, was einem so im Gedächtnis blieb – was einem klar wurde.
»Grace – und weiter?« »Grace. Punkt.« »Nachnamen hast du keinen?« »Für dich nicht.« Genau hier, an dieser Bushaltestelle. Den Blick hatte sie auf die Beine ihrer dunkelblauen Jeans gerichtet und zupfte immer wieder an den Aufschlägen, damit sie auch genau richtig auf den hohen schwarzen Stiefeln saßen. Die Schmachtlocke fest an die Stirn zementiert. Er war überzeugt, nie etwas Schöneres gesehen zu haben. »Ey, komm schon, sei nicht so. Hör mal: Weißt du, was ›Felix‹ bedeutet? Glücklich. Ich bring also Glück, sozusagen. Aber kann ich dich mal was fragen? Stört’s dich, wenn ich mich hierhersetze? Grace? Kann ich mit dir reden? Wir warten doch beide auf denselben Bus, oder? Na, ist ja egal. Aber stört’s dich, wenn ich mich hierhersetze?« Endlich blickte sie zu ihm auf, mit fabrikgefertigten Augen, den hellbraunen, die man an der High Road kaufen konnte. Wie nicht von dieser Welt sah sie aus. Und er hatte gleich gewusst: Das ist mein Glück. Ich warte schon mein Leben lang an dieser Bushaltestelle, und jetzt ist mein Glück endlich gekommen. Sie sprach! »Felix – heißt du so, ja? Du störst mich kein bisschen, Felix. Um mich zu stören, müsstest du ja was bedeuten, kapierst du? So sieht’s nämlich aus.« Ihr Bus kam über den Hügel. Damals. Jetzt. »Nee, warte mal, sei doch nicht so, hör mir zu: Ich will dich gar nicht anbaggern. Du bist mir einfach aufgefallen. Ich will dich kennenlernen, sonst nichts. Du hast so ein Gesicht, das ist echt voll ... intensiv.« Sie hob eine Filmstar-Augenbraue. »Ach ja? Und du hast ’n Gesicht wie einer, der Frauen an der Bushaltestelle anbaggert.«
Mit fünf unschuldig an dieser Bushaltestelle. Mit vierzehn besoffen. Mit sechsundzwanzig stoned. Mit neunundzwanzig komplett zu, voll von der Rolle vor lauter Koks und Ketamin: »Hier kannst du aber nicht pennen, Junge. Entweder, du verziehst dich, oder wir nehmen dich mit aufs Revier, da kannst du dich ausschlafen.« Wenn man lange genug am selben Ort wohnt, überlappen sich die Erinnerungen. »Danke für die Hilfe, Felix, mein Lieber. Schön, dich zu sehen. Klopf doch mal bei mir. Und sag Lloyd einen lieben Gruß. Ich bin gleich eins drunter, du bist jederzeit willkommen.« Felix sprang wieder in den Bus. Er winkte Phil Barnes, der mit zwei hochgereckten Daumen konterte. Er winkte Mrs Mulherne, als der Bus sie auf dem Weg bergan überholte. Er legte eine Hand an die Scheibe. Grace mit siebzig. Das Tinkerbell-Tattoo unten am Rücken, runzlig oder auch in die Breite gegangen. Aber wie könnte Grace jemals siebzig sein? Undenkbar. (»Und vergiss nicht, Fee: Ich hätte da gar nicht sein sollen. Eigentlich wäre ich bei meiner Tante in Wembley gewesen. Weißt du noch? An dem Tag hätte ich nämlich eigentlich auf ihre Kinder aufpassen sollen, aber dann hat sie sich den Knöchel gebrochen und war selber zu Hause. Und ich dann so: Kann ich auch in die Stadt fahren, bisschen shoppen. Erzähl mir jetzt nicht, Felix, dass das nicht Schicksal war. Mir ist egal, was alle sagen, es passiert trotzdem nichts ohne Grund. Erzähl mir jetzt nicht, das Universum hätte nicht gewollt, dass ich in dem Moment dort bin!«)
Mind the gap . Felix stieg in den vorletzten Wagen und konsultierte den Tube-Plan wie ein Tourist, nahm sich einen Moment Zeit, um sich von Einzelheiten zu überzeugen, die jeder lebenslange Londoner eigentlich im Schlaf wissen sollte: von Kilburn nach Baker Street (Jubilee), von Baker Street nach Oxford Circus (Bakerloo). Andere Leute vertrauen auf sich. Eine Variante desselben Instinkts ließ ihn die Hand tief in der Tasche vergraben und einen Zettel umklammern, auf dem ein Name stand. Eine andere Bahn schoss heran, warf ihn auf den Sitz, den er schon angesteuert hatte. Gleich darauf schien es, als würden beide Züge nebeneinander herfahren. Er sah sich jetzt Auge in Auge mit
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