London NW: Roman (German Edition)
zahlen. Eine Riesensumme. Und dazu ein halbes Jahr Gefängnis. Oder nein – neun Monate. Ausgleichende Gerechtigkeit. Dann könnte man nicht so einfach ...«
»Weißt du was? Ich sollte langsam.« Er schob ihren Kopf von seinem Körper, zog sein T-Shirt glatt und stand auf. Sie richtete sich auf und verschränkte die Arme vor den Brüsten. Sie schaute zum Fluss hinüber.
»Klar, geh doch.«
Er bückte sich, um ihr einen Abschiedskuss zu geben, aber sie drehte den Kopf weg wie ein Kleinkind.
»Was bist du denn jetzt so? Ich muss los, weiter nichts.« Felix spürte, dass etwas nicht in Ordnung war: Er schaute an sich herunter und sah, dass sein Reißverschluss noch offen stand. Er zog ihn zu. Ihm wurde klar, dass er, seit er ihre Wohnung betreten hatte, genau das Gegenteil dessen sagte und tat, was er hatte sagen und tun wollen.
»Tut mir leid«, sagte er.
»Schon gut. Alles bestens. Nächstes Mal bringst du deine Grace mit. Ich mag bewusste Menschen. Die sind wenigstens lebhaft. Die meisten Leute vegetieren doch eigentlich nur so dahin.«
»Es tut mir wirklich leid.« Felix küsste sie auf die Stirn.
Er ging auf die Dachluke zu. Gleich darauf hörte er Schritte hinter sich, sah ein Stück ihres Kimonos, ein paar Seidenschwalben, die vorbeiflatterten, dann packte ihn eine Hand fest an der Schulter.
»Weißt du, Felix ...« Ein zuckersüßes Stimmchen, wie eine Kellnerin, die die Empfehlungen des Tages aufzählt. »Nicht jeder will so ein spießiges kleines Leben wie das, auf das du jetzt zuruderst. Ich habe lieber Feuer auf meinem Fluss. Und wenn ich eines Tages gehen muss, bin ich fest entschlossen, mein kleines Ein-Personen-Schiffchen mitten in die Flammen zu lenken und darin zu verbrennen. Ich habe keine Angst! Ich hatte noch nie Angst. Die meisten Menschen haben welche. Aber ich bin nicht wie die meisten Menschen. Du hast nie etwas für mich getan, und ich brauche auch nichts von dir.«
»Nie was für dich getan? Als du hier oben auf dem Dach gelegen bist und nur noch gesabbert hast, mit verdrehten Augen, wer hat sich da um dich gekümmert, wer hat dir den Finger ...«
Annies Nasenflügel weiteten sich, und ihre Miene wurde bösartig. »Felix, was ist das eigentlich für ein krankhaftes Bedürfnis, immer der Gute sein zu wollen? Das ist äußerst öde. Ehrlich gesagt warst du unterhaltsamer, als du noch mein Dealer warst. Du musst mir nicht das Leben retten. Und auch sonst niemandem. Es geht uns allen bestens. Du brauchst nicht auf einem weißen Pferd angeritten zu kommen. Du rettest niemanden.«
Sie sprachen verhältnismäßig leise, griffen aber immer ungestümer nacheinander und wehrten einander ab, und Felix wurde klar, dass es jetzt passierte, dass es genauso schlimm war wie erwartet, die gefürchtete Szene, die ihn monatelang von hier ferngehalten hatte, und das Merkwürdigste war, er wusste ganz genau, wie sich Annie in diesem Moment fühlte – er war oft genug in ihrer Position gewesen, mit seiner Mutter, mit anderen Frauen –, und je mehr er sie verstand, desto mehr wollte er ihr entkommen, als wäre eine Niederlage, wie sie sie gerade erlitt, eine Art Virus, mit dem man sich über Mitleid ansteckte.
»Du führst dich auf, als hätten wir ’ne Beziehung, aber das ist keine Beziehung. Ich hab jetzt eine Beziehung – ich bin nur hergekommen, um dir das zu sagen. Aber das hier? Das ist doch nichts, überhaupt gar nichts, das ist ...«
»Mein Gott, noch so ein scheußliches Wort! Der Himmel bewahre mich vor ›Beziehungen‹!«
Weil er jetzt nur noch wegwollte, spielte Felix seine vermeintliche Trumpfkarte aus. »Du bist irgendwas über vierzig. Schau dich doch an. Du führst immer noch so ein Leben. Ich will Kinder. Ich will weiterkommen.«
Annie rang sich eine Art Lachen ab. »›Noch mehr Kinder‹, meinst du wohl? Oder bist du eins dieser optimistischen Gemüter, die glauben, sie würden alle sieben Jahre ein neuer Mensch, wenn die Zellen sich einmal komplett erneuert haben – unbeschriebenes Blatt, Neustart, egal, wen man verletzt, egal, was vorher war. Jetzt ist es Zeit für meine neue Beziehung!«
»Ich geh jetzt«, sagte Felix und entfernte sich.
»›Beziehung‹, was für ein heuchlerisches, jämmerliches Wort! Das ist was für Leute, die nicht den Mumm haben, zu leben, und nicht die Fantasie, ihre fünf Dutzend Jahre und noch zehn mit etwas anderem zu füllen als – «
Felix war klug genug, nicht darauf einzugehen: Er hatte keine Karten mehr übrig, und sie spielte sowieso
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