London NW: Roman (German Edition)
längst alleine. In dieser Stimmung hätte sie auch mit einem Garderobenständer streiten können, mit einem Besen. Und woher sollte er wissen, wie viel sie schon intus gehabt hatte, als er hier angekommen war? Jetzt wandte er sich von ihr ab und öffnete die Luke und stieg nach unten, aber sie kam ihm nach.
»Das macht man so heutzutage, nicht? Wenn einem nichts anderes mehr einfällt, was man sonst tun könnte. Keine Politik, keine Ideen, kein Mumm. Dann wird eben geheiratet. Aber ich habe das alles hinter mir gelassen. Schon vor langer Zeit. Vor Äonen. Allein die Vorstellung, dass das ganze Glück von diesem einen anderen Menschen abhängt. Allein die Vorstellung von Glück! Ich bin auf einer anderen Bewusstseinsebene, mein Schatz! Ich habe so viel Mumm, davon kann deine ganze Philosophie nur träumen. Ich war mit neunzehn verlobt, mit dreiundzwanzig verlobt, ich könnte heute in irgendeiner Hütte in Hampshire verschimmeln und mit irgendeinem Baron in schönster, sexfreier Harmonie über Sofabezüge diskutieren. So macht man das in meinem Umfeld. Und in deinem Umfeld kriegt man haufenweise Kinder, die man sich nicht leisten und die man nicht versorgen kann. Das ist sicher alles ganz wunderbar, aber ich will damit nichts zu tun haben, verdammte Scheiße!«
Im Flur zwischen Schlafzimmer und Wohnraum drehte Felix sich um und packte sie an beiden Handgelenken. Er zitterte. Bis dahin war ihm nicht klar gewesen, was er eigentlich wollte. Nicht nur, dass sie verlor, sondern dass sie gar nicht mehr existierte.
»Du kannst froh sein, Felix, dass dir das Leben so leichtfällt. Du kannst froh sein, dass du glücklich bist, dass du weißt, wie das geht mit dem Glücklichsein, dass du ein guter Mensch bist – aber du willst, dass alle anderen auch so glücklich und gut sind wie du und dass ihnen alles genau so leichtfällt wie dir. Kommt dir denn nie in den Sinn, dass manchen Leuten das Leben nicht ganz so leichtfallen könnte wie dir?«
Sie machte ein triumphierendes Gesicht. Er sah ihren Kokser-Kiefer mahlen.
»Mein Leben? Mein Leben ist leicht?«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass es leicht ist. Ich habe nur gesagt, es fällt dir leicht. Das ist ein Unterschied. Das gefällt mir so am Ballett: Es ist für jeden gleich anstrengend. Lass mich los, Felix, du tust mir weh.«
Felix ließ sie los. Wenn sie sich so lange berührten, selbst im Zorn, verflog der Zorn, und sie wurden beide wieder weicher, sprachen leiser und wandten den Blick ab.
»Ich bin im Weg, das ist mir klar. Tja. Es ist ja nichts passiert. Womit ich natürlich meine: Es ist jede Menge passiert.«
»Jedes Mal dasselbe Drama, wenn ich herkomme. Jedes Mal dasselbe Drama.« Felix musterte kopfschüttelnd den Boden. »Ich kapier’s nicht. Ich war immer nur nett zu dir. Warum willst du mir unbedingt mein Leben kaputt machen?«
Sie sah ihn durchdringend an.
»Das ist ja lustig«, sagte sie. »Aber klar, so muss es dir natürlich vorkommen.«
Danach gingen sie ganz ruhig zur Tür, der Mann ein Stück voraus. Ein zufällig dazugestoßener Fremder hätte meinen können, der Mann habe erfolglos versucht, der Frau eine Bibel anzudrehen oder ein mehrbändiges Lexikon. Felix seinerseits war sich absolut sicher, dass diesmal das letzte Mal war – das letzte Mal, dass er an diesem Bild vorbeiging, das letzte Mal, dass er diesen Riss im Putz sah –, und im Stillen sprach er ein kleines Dankgebet. Fast wünschte er, er könnte der Frau, die er liebte, davon erzählen, weil es so ein großartiges Beispiel für all das war, was er von ihr gelernt hatte. Das Universum will, dass man frei ist. Man muss sich von allem Negativen befreien. Das Universum will nur, dass man fragt, dann wird einem auch gegeben. Hinter sich hörte er die andere Frau leise weinen. Das war das Stichwort, sich umzudrehen, aber er tat es nicht, und auf der Schwelle wurde das Weinen zum Schluchzen. Er rannte zur Treppe und war schon ein paar Stufen hinunter, als ihm ein teppichdumpfer Aufprall von oben sagte, dass sie auf die Knie gesunken war, und er wusste, er sollte sich deswegen schlecht fühlen, aber in Wahrheit fühlte er sich wie jemand, der sich einem noch zu erfindenden Vorgang namens Teilchentransfer unterzog: wunderbar und beglückend leicht.
NW6
Felix schob sich tiefer in den Waggon hinein. Er hielt sich an der Mittelstange fest. Betrachtete den Tube-Plan. Der entsprach nicht seiner Wirklichkeit. Nicht ›Oxford Circus‹ war das Zentrum, sondern die hellen Lichter der Kilburn
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