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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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High Road. ›Wimbledon‹ lag auf dem Land, ›Pimlico‹ war bloße Fantasie. Er legte den rechten Zeigefinger auf den blauen Pimlico-Streifen. Das war Nirgendwo. Wer wohnte da? Wer kam da auch nur vorbei?
    In einer Viererecke wurden zwei Plätze frei. Felix löste sich aus seinen Gedanken und setzte sich. Der Typ gegenüber wippte mit dem Kopf zum lauten Break-Beat. Sein Freund neben ihm legte die Füße auf den Sitz. Mit riesigen Pupillen lachte er hin und wieder in sich hinein, amüsierte sich über seine private Trance. Felix schuf sich seinen eigenen Privatraum, spreizte die Beine weit und fläzte sich hin. An der Finchley Road, wo die U-Bahn aus dem Untergrund kam, erwachte sein Handy zum Leben und piepste, um einen verpassten Anruf anzuzeigen. Hoffnungsvoll scrollte sein Daumen durch die Liste. Dieselbe Nummer, dreimal. Dafür gab es auf der ganzen Welt nur eine physische Entsprechung: ein ramponiertes öffentliches Telefon, an einer Wand befestigt, etwa in der Mitte eines kahlen Betonflurs. Er hatte es zahllose Male durch die Panzerglasscheiben des Besucherraums gesehen. Er steckte das Handy wieder ein.
     
    Mit Devon war es so: Man wollte mit ihm reden, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Es war ja auch nicht mehr Devon, sondern ein Fremder mit harter Stimme, der einen anrief und harte Dinge sagte, verletzende Dinge. Jackie, die aus Devon sprach. Sie schrieb Devon Briefe. Das wusste Felix von Lloyd (Devon hatte nichts erzählt, Felix nicht gefragt). Ihre Mutter entwickelte eine seltsame Macht über Menschen – Felix wollte nicht ausschließen, dass Hexerei im Spiel war. (Immerhin behauptete Jackie, eine ghanesische Großmutter zu haben, und so was kam dort gar nicht selten vor.) Über Felix jedenfalls hatte sie Macht gehabt, früher einmal. Und über die Mädchen. Aber sie war ein Mensch, bei dem immer irgendwann der ›letzte Tropfen‹ kam. Devon würde das noch lernen müssen, so wie Felix und die Mädchen es gelernt hatten. Für Felix war das Ende klar markiert. Ihr letzter ›Besuch‹ lag damals acht Jahre zurück. Die Mädchen weigerten sich, sie zu sehen. Felix, gefühlsduselig wie immer, nahm sie bei sich auf, zögernd, ohne irgendwelche Versprechungen zu machen. Als moralische Unterstützung lud er seinen Bruder ein. Am Anfang des Abends stand Devon auf der anderen Seite des Zimmers, an die Wand gelehnt, mit finsterem Blick. Am Ende hockte er gemütlich auf dem Sofa und ließ sich von Jackie das Gesicht abküssen. Auch Felix wurde weich. Er holte den weißen Rum vom obersten Regal. Idiotisch. Tia hatte es von Anfang an gesagt, Ruby auch. Und Lloyd. Alle hatten es gesagt. Jackies Schwester Karen meinte: »Hör auf mich. Setz sie vor die Tür und lass das Schloss auswechseln.« Aber damals sah es so aus, als machte Devons Einverständnis auch das von Felix möglich – nötig sogar. Devon hatte all die Jahre über schließlich viel mehr ertragen müssen als Felix, empfand aber keinen Groll.
    Sie war im Hochsommer aufgetaucht. Tagelang kifften sie zusammen auf der Hampstead Heath, lachten sich kaputt, kugelten im Gras herum wie Frischverliebte. Jackie, Devon, Felix. Abends tranken sie bis spät in die Nacht. »Ich kann nicht fassen, wie hell der Junge ist! Schau sich einer diese Löckchen an!« Als sie mit einer Packung Kekse aus der Küche kam, erzählte sie dem armen Devon ganz beiläufig, sein Vater wäre vor ein paar Jahren gestorben – ertrunken. Für Felix hörte sich das nach Lügengeschichte an. Er schwieg. Letztlich waren sie nur Halbbrüder: Das ging ihn nichts an. Er hatte seinen eigenen Vater, seine eigenen Probleme. In den frühen Morgenstunden stellte sie sich mitten ins Zimmer, wie auf die Bühne, und berichtete, wie einsam und unglücklich sie als junge Frau in England gewesen sei. Davon hatte Felix noch nie gehört; er stellte fest, dass er es hören wollte, obwohl ihm völlig klar war, dass sie an die Stelle dieser Lebensgeschichte auch jede andere hätte setzen können und er sie ebenso bereitwillig akzeptiert hätte. Er wollte sie lieben. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es war, im berüchtigten Garvey House zu leben, sich von den »Jungs von der National Front beim Einkaufen anspucken« zu lassen. Sie referierte ihre diversen Verschwörungstheorien. Dabei unterbrach Felix sie nicht. Er wollte glücklich sein. Eine handelte von den Zwillingstürmen. Eine von der Mondlandung. Die Jungfrau Maria war eigentlich schwarz. Die Erde wurde immer kälter. 2012 würde alles vorbei

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