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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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hat echt keinen Sinn mit dir, weißt du? Ich versuch dir hier zu erzählen, was ich mit meinem Leben vorhab, und du machst dich nur lustig. Das ist sinnlos. Du bist sinnlos.«
    Es klang verletzender, als er es gemeint hatte. Sie fuhr zusammen.
    »Ich finde das sehr grausam von dir. Ich versuche doch auch nur zu verstehen.«
    Felix schaltete einen Gang zurück. Er wollte nicht grausam sein. Er wollte nicht als grausam gesehen werden. Er setzte sich neben sie. Er hatte seine Rede parat, aber zugleich auch das Gefühl, dass sie beide ihren Text hatten, dass sie mindestens so vorbereitet war wie er.
    »Ich hab keine Lust mehr, weiter so zu leben wie früher. Ich fühl mich, als wär ich schon viel zu lange hier auf diesem Level im Spiel, und klar, ich hatte voll Spaß auf dem Level – aber hey, Annie: Sogar du musst doch zugeben, dass es hier viele Dämonen gibt. Verdammt viele Dämonen. Dämonen und ...«
    »Entschuldige mal – du sprichst hier mit einem wohlerzogenen katholischen Mädchen, das ...«
    »Lass mich ausreden! Nur ein Mal!«
    Annie nickte stumm.
    »Jetzt hab ich den Faden verloren.«
    »Dämonen«, sagte Annie.
    »Ja. Und ich hab sie alle erschlagen. Das war hart, aber jetzt sind sie tot, und ich bin mit dem Level durch und muss weiter auf das nächste Level. Und es geht auch nicht darum, dich mit aufs nächste Level zu nehmen. Du willst da nämlich eindeutig nicht hin.«
    Das war die Rede, die er vorbereitet hatte. Jetzt, wo sie ausgesprochen war, kam sie ihm gar nicht mehr so hintergründig und tiefsinnig vor, wie er sie sich vorgestellt hatte, aber immerhin tat sie ihre Wirkung: Annie hatte die Augen geöffnet und die Yogapose aufgegeben, sie hatte die Arme entknotet und die Hände flach auf den Boden gestützt.
    »Hörst du? Das nächste Level. Man kann sein ganzes Leben damit verbringen, einfach nur zu grübeln. Ich könnt auch mein ganzes Leben damit verbringen, über den ganzen Scheiß zu grübeln, der mir so passiert ist. Aber damit bin ich durch. Jetzt ist es Zeit für das nächste Level. Ich komm endlich weiter im Spiel, und ich bin bereit.«
    »Ja, ja, ich habe die Metapher begriffen, du brauchst sie nicht ständig zu wiederholen.« Annie zündete sich eine Zigarette an, machte einen tiefen Zug und stieß den Rauch durch die Nase aus. »Das Leben ist aber kein Computerspiel, Felix – es gibt keine festgelegte Punktzahl, mit der du das nächste Level erreichst. Es gibt noch nicht mal ein nächstes Level. Ich sag’s dir ungern, aber wir sterben alle irgendwann. Game over.«
    Die wenigen am Himmel verbliebenen Wolken schoben ab Richtung Trafalgar Square. Felix folgte ihnen mit einem Blick, von dem er hoffte, dass er vergeistigt wirkte. »Tja, das ist deine Meinung. Jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung.«
    »Meine und die von Nietzsche, Sartre und etlichen anderen. Felix, Schatz, es ist wirklich schön, dass du herkommst, um dieses ›ernsthafte Gespräch‹ zu führen und mir deine Gedanken über Gott mitzuteilen, aber ich bin dieses ganze Gerede langsam leid, und persönlich möchte ich eigentlich vor allem wissen: Vögeln wir heute noch irgendwann oder nicht?«
    Sie zupfte ihn spielerisch am Bein. Er wollte aufstehen, aber sie küsste sich seinen Knöchel hinauf, und kurz darauf sank er wieder auf die Knie. Es war eine Niederlage, und er gab ihr die Schuld. Er fasste sie nicht sonderlich sanft an den Schultern, und gemeinsam krabbelten sie bis zum Rand der Mauer, wo sie sich einreden konnten, dass sie keiner sah. Er griff ihr mit der ganzen Hand ins Haar und versuchte, sie grob zu küssen, doch sie schaffte es, jede boshafte Berührung in Leidenschaft umzumünzen. Sie passten zueinander. Das war schon immer so gewesen. Aber was hatte es für einen Sinn, in dieser Hinsicht zusammenzupassen und in keiner anderen? Er fühlte ihre Hände auf den Schultern, die ihn nach unten drückten, und bald war er auf Höhe ihrer Blinddarmnarbe. Sie hob den Hintern. Er umfasste ihn mit beiden Händen und drückte das Gesicht zwischen ihre Beine. Er war vierzehn, als Lloyd ihm das erste Mal erklärt hatte, eine Frau zu lecken sei unhygienisch und demütigend. Nur mit vorgehaltener Waffe, das war die Ansicht seines Vaters, und auch dann nur, wenn jedes einzelne Härchen entfernt war. Annie war die Erste gewesen. Jahre der Konditionierung, in einem Nachmittag beim Teufel. Er überlegte, was Lloyd jetzt wohl von ihm denken würde, die Nase zwischen so viel wild wucherndem, glattem Haar und diesen

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