London NW: Roman (German Edition)
ich eben einfach der Ansicht bin, dass du sehr talentiert bist. Und dich sträflich unter Wert verkaufst.«
»Hör auf damit, Mann.«
Annie seufzte und löste ihre Haarspange. Sie teilte das Haar in gleichmäßig dicke Strähnen und fing an, sich zwei lange Kinderzöpfe zu flechten. »Und wie geht es dem armen Devon?«
»Gut.«
»Hältst du mich etwa für einen dieser Menschen, die solche Fragen aus bloßer Höflichkeit stellen?«
»Es geht ihm gut. Er hat ’nen vorläufigen Entlassungstermin am sechzehnten Juni.«
»Aber das ist ja großartig!«, rief Annie, und Felix spürte eine große, unpraktische Welle von Zuneigung zu ihr. Wenn Grace da war, wurde Devon so gut wie nie erwähnt. Er gehörte zu den »negativen Energien«, die sie aus ihrem Leben auszumerzen hatten.
»Und wieso ›vorläufig‹?«
»Je nachdem, wie er sich benimmt. Zwischen jetzt und dann darf er keinem mehr blöd kommen.«
»Wenn du mich fragst, hat er seine Schuld der Gesellschaft gegenüber mehr als gebüßt, für so einen kleinen Raubzug mit einer Spielzeugpistole.«
»Das war kein Spielzeug. Sie war nur nicht geladen. Nennt man trotzdem bewaffneten Raubüberfall.«
»Oh, aber am Freitag hat mir jemand einen so lustigen Witz erzählt – der wird dir gefallen. Ach Gott: Formulierungen. So was wie: Weißt du, warum arme Leute ...? Nein. Warte, ich fang noch mal an. Arme Leute – mein Gott: ›In armen Vierteln klauen die Leute dir das Handy. In reichen Vierteln klaut man den Leuten die Pension.‹« Felix grinste kurz. »Aber er war natürlich viel besser erzählt.«
Sie war lauter geworden, ohne es zu merken. Drüben auf der anderen Terrasse drehte die Japanerin sich um und blickte rücksichtsvoll ins Leere.
»Ich meine, nimm nur mal die Frau da: Die ist besessen von mir. Sieh sie dir an. Sie will mich unbedingt fotografieren, bringt es aber nicht fertig zu fragen. Das ist eigentlich äußerst traurig.« Annie winkte der Frau und ihrer Familie zu. »Esst nur euer Mittagessen! Lebt weiter euer Leben!«
Felix schob sich zwischen Annie und den Ausblick. »Sie ist halb Jamaikanerin und halb Nigerianerin. Ihre Mutter ist Lehrerin an der William Keble in Harlesden – ganz ernsthafte Frau. Sie ist wie ihre Mutter, sie hat diese nigerianische Einstellung zur Bildung: voll zielgerichtet. Du würdest sie mögen.«
»Hmm.«
»Kennst du diesen Laden, York’s, an der Monmouth Street?«
»Aber sicher. Da ging man in den Achtzigern hin.«
»Sie ist grad befördert worden«, erzählte Felix stolz. »Sie ist jetzt so ’ne Art Oberkellnerin, wie heißt das noch? Sie muss nicht mehr an den Tischen servieren. Wie heißt das noch?«
»Maître d’Hôtel.«
»Genau. Wahrscheinlich wird sie irgendwann noch Geschäftsführerin. Es ist jeden Tag voll – da gehen jede Menge Leute hin.«
»Ja, aber was für Leute?« Annie hob den Drink an die Lippen und leerte ihn in einem Zug. »Sonst noch was?«
Felix war wieder verunsichert. »Wir haben viel gemeinsam, also ... richtig viel einfach.«
»Lange Spaziergänge im Grünen, Rotwein, Verdi-Opern, einen guten Sinn für Humor ...« Annie streckte die Ellbogen weg und legte die Hände aneinander wie zum Mantrasingen.
»Sie weiß, was sie will. Sie hat Bewusstsein.«
Annie musterte ihn eigentümlich: »Da legst du die Latte aber ziemlich niedrig, findest du nicht? Ich meine, hast du ein Glück, dass sie nicht im Koma liegt ...«
Felix lachte und sah, wie sie zufrieden ihr Zahnfleisch zeigte.
»Politisches Bewusstsein mein ich, Rassenbewusstsein, also, sie kapiert das mit dem Kampf. Bewusstsein eben.«
»Sie ist bei Sinnen, und sie kapiert’s.« Annie schloss die Augen und atmete tiefer. »Hast du ein Glück.«
Doch ein Anflug von Überheblichkeit in ihrer Miene ließ Felix explodieren. Er brüllte los.
»Du kannst dich immer nur lustig machen. Mehr kannst du nicht. Was machst du denn so wahnsinnig Tolles? Was kriegst du denn auf die Reihe?«
Erschrocken öffnete Annie ein Auge. »Was ich auf die ... was in aller Welt redest du da? Das war doch nur ein Witz, um Himmels willen. Was genau soll ich denn bitte auf die Reihe kriegen?«
»Ich red davon, was du für Ziele hast. Was du für dein Leben willst, wie’s sein soll.«
» Was ich für mein Leben will, wie’s sein soll? Entschuldige bitte, aber rein syntaktisch ist diese Äußerung reichlich sonderbar.«
»Leck mich doch, Annie.«
Sie wollte auch das weglachen und griff nach seinem Handgelenk, aber er schob sie von sich. »Nee, das
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