London NW: Roman (German Edition)
existenziellen Ängsten wenig Raum ließen, sah zu, wie ihre Freundin mit ihren frisch geschminkten Pandabär-Augen zum Oberdeck hinaufstieg, und verbrachte eine angespannte Viertelstunde damit, sich zu fragen, ob sie selbst eigentlich irgendeine Persönlichkeit besaß oder in Wahrheit nur Ansammlung und Widerschein all dessen war, was sie in Büchern gelesen und im Fernsehen gesehen hatte.
26. Relative Zeit
Eine Reihe von Faktoren – zurückhaltender Kleidungsstil, frühe körperliche Reife, Brille – trugen dazu bei, dass Keisha Blake um einiges älter aussah, als sie eigentlich war.
27. 50 ml Wodka
Anstatt als »Persönlichkeit« wurde Keisha Blake nun quasi indirekt als Funktion beliebt. Sie besorgte Alkohol für alle möglichen Leute, die von sich meinten, sie sähen zu jung aus, um welchen zu bekommen, und der unsinnige Glaube an Keishas »Talent« auf diesem Gebiet wurde zum Selbstläufer, weil Keisha, ausgestattet mit so viel Vertrauen in ihre Unfehlbarkeit, irgendwann selbst anfing, daran zu glauben. Trotzdem war es komisch, Alk für Leah zu kaufen. »Es muss was sein, was hinten in die Hosentasche passt.« »Wieso?« »Weil da nachher zweihundert Leute rumpogen, da kannst du nicht mit ’nem Weinglas stehen.« Das Konzert begann erst spät, und Leah war vorher zu Keisha Blake gekommen, um bei ihr im Zimmer abzuhängen und zu trinken und zu reden, bis sie losmusste. Hinterher würde sie sich vermutlich mit irgendwem treffen, dem die Haare bis in die Augen hingen, und Sex haben. »Ich hab gestern Nathan an der Pommesbude getroffen«, sagte Keisha. »Ach Gott, Nathan«, sagte Leah Hanwell. »Er kommt nächstes Schuljahr nicht mehr«, sagte Keisha Blake. »Sie haben doch ’nen Schulverweis draus gemacht.« »War ja nur eine Frage der Zeit«, sagte Leah Hanwell und öffnete das Fenster, um eine zu rauchen. Leah trank noch ein bisschen mehr und brachte eine ganze Zeit damit zu, am Radioknopf zu drehen und einen Piratensender zu suchen, den sie nicht finden konnte. Gegen Viertel nach zehn sagte Leah Hanwell: »Ich glaube, Frauen können eigentlich gar nicht richtig schön sein. Ich glaube, sie können wahnsinnig attraktiv sein und man kann sie vögeln wollen und lieben wollen und das ganze Blabla, aber ich glaube, richtig schön können eigentlich nur Männer sein.« »Meinst du?«, fragte Keisha und verbarg ihre Verwirrung hinter einem großen Schluck aus dem Teebecher. Sie war sich alles andere als sicher, auf wen sich dieses »man« beziehen sollte.
28. Rabbit
Am Abend vor ihrem sechzehnten Geburtstag lag draußen auf dem Gang vor der Wohnungstür ein Geschenk für Keisha Blake. Das Einwickelpapier zeigte ein sich wiederholendes Schmetterlingsmuster. Auf der Karte stand: NUR ALLEINE ÖFFNEN , ohne Unterschrift, doch das schiefe R und das längliche Ö verrieten die Handschrift ihrer guten Freundin Leah Hanwell. Sie zog sich ins Bad zurück. Ein Vibrator, neonpink, mit rotierenden Perlen in der gewaltig großen Spitze. Keisha setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel und tätigte ein paar strategische Überlegungen. Sie wickelte den Dildo in ein Handtuch und versteckte ihn in dem Zimmer, das sie mit Cheryl teilte, dann brachte sie die Schachtel und das Geschenkpapier hinunter in den Hof zu den öffentlichen Mülltonnen neben den Parkbuchten. Am darauffolgenden Samstag mimte sie schon morgens die ersten Anzeichen einer Erkältung, und am Sonntag gab sie vor, unter schwerem Husten und Bauchweh zu leiden. Ihre Mutter drückte ihr die Zunge mit einer Gabel nach unten und meinte, das sei ein Jammer, Pastor Akinwande wolle doch heute über Abraham und Isaak sprechen. Vom Balkon aus sah Keisha Blake ihrer Familie auf dem Weg zur Kirche nach. Nicht ohne Bedauern: Für Abraham und Isaak interessierte sie sich nämlich wirklich sehr.
29. Rabbit im Einsatz
Aber sie hatte für sich beschlossen, dass sie anders gläubig war als ihre Mutter und den einen oder anderen anthropologischen Ausflug ins Sündhafte durchaus verkraften konnte. Sie ging zurück nach drinnen und entwendete einem Wecker und einem Taschenrechner die Batterien. Sie setzte weder stimmungsvolle Beleuchtung noch leise Musik oder duftende Kerzen ein. Die Kleider behielt sie an. Drei Minuten später hatte sie etliche Dinge herausgefunden, die ihr bis dahin unbekannt gewesen waren: was ein vaginaler Orgasmus war, worin er sich von einem klitoralen Orgasmus unterschied und dass ihr Körper eine zähflüssige Substanz absonderte, die sie anschließend in
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