London NW: Roman (German Edition)
aufgefallen, dass der Status als »Freundin von Leah Hanwell« eine Art Passierschein darstellte, der Keisha bei den meisten Gelegenheiten gesicherten Zugang verschafft hatte. Jetzt wurde sie auf die konzeptionelle Ebene der »Kirchen-Clique« verwiesen, wo fast alle nigerianischer oder sonst wie afrikanischer Herkunft waren und weder Keisha Blakes anthropologische Neugier hinsichtlich der Sünde teilten noch ihre Vorliebe für Rap. Ob nun zu Recht oder zu Unrecht, war sie doch überzeugt, dass sie anderen Kindern mit ihrem Hintergrund als abnorm vorkommen musste, und sie wusste mit Sicherheit, dass die Raver und Indie-Kids sie als die falsche Sorte Außenseiterin betrachteten. Keisha Blake kam gar nicht auf den Gedanken, dass Jugendliche allerorts das banale Schicksal solcher Entfremdungsgefühle teilten. Sie hielt sich für ganz besonders gepeinigt, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass sie sich schwertat mit der Vorstellung, irgendwer, außer vielleicht James Baldwin und Jesus, könnte je eine so tiefe Isolation und Einsamkeit erlebt haben, wie sie sie nun als einzig wahre, diesseitige Realität erlebte.
36. Der Feind deines Feindes
Wir dürfen nicht verhehlen, dass Marcia Blake in Keisha Blakes Bruch mit Leah Hanwell eine Chance witterte. Der Bruch fiel mit der Sexproblematik zusammen, die ohnehin nicht länger zu ignorieren war. Ein schlichtes Verbot wäre nach hinten losgegangen – das hatten sie alles schon mit Cheryl erlebt, die mittlerweile zwanzig und im sechsten Monat schwanger war. Mrs Blakes elegante Lösung bestand darin, Keisha Blake Rodney Banks zuzuführen: Just in dem Moment, als ihre Tochter zu detonieren drohte, wurde sie entschärft. Rodney wohnte im selben Stockwerk, ging auf dieselbe Schule. Er war eins der wenigen Kinder karibischer Herkunft in der Gemeinde. Und Christine, seine Mutter, war eine gute Freundin. »Du solltest dich mal mit Rodney treffen«, sagte Marcia und reichte Keisha Blake einen Teller zum Abtrocknen. »Er ist wie du, er liest auch ständig.« Aus ebendiesem Grund war Keisha Rodney gegenüber immer auf der Hut gewesen und hatte ihn gemieden, soweit das an einem Ort wie Caldwell überhaupt ging – frei nach dem Motto: Ein Ertrinkender braucht keinen zweiten Ertrinkenden, der sich an ihm festklammert.
38. Andererseits
In der Not frisst der Teufel Fliegen.
39. Lektüre mit Rodney
Keisha Blake hockte mit angezogenen Beinen auf Rodney Banks’ Bett. Sie war bereits einsfünfundsiebzig, während Rodney seit dem Sommer zuvor nicht mehr gewachsen war. Um Rodney gegenüber christliche Nächstenliebe zu beweisen, war Keisha Blake bemüht, sich so oft wie möglich hinzusetzen. Rodney hielt die gekürzte Büchereiausgabe eines verrufenen Buchs von Albert Camus in der Hand. Sowohl Keisha Blake als auch Rodney Banks sprachen das T und das S des Namens mit, weil sie es nicht besser wussten: Man lebt gefährlich als Autodidakt. Rodney Banks las den Text laut vor und fügte eigene skeptische Kommentare ein. Er nannte das »den Glauben auf die Probe stellen«. Diese zupackende Herangehensweise empfahl der Pfarrer seinen jugendlichen Schäfchen gern, obwohl er dabei höchstwahrscheinlich nicht an Camus dachte. Rodney Banks hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Martin Luther King: das gleiche runde, sanfte Gesicht. Wenn er auf ein Argument kam, das ihn besonders interessierte, kritzelte er eine kleine verbotene Notiz auf die Buchseite, die Keisha dann las und nach Kräften bewunderte. Es fiel ihr schwer, sich auf das Buch zu konzentrieren, weil sie sich vor allem darum sorgte, wann und wie sie mit dem Petting anfangen würden. Letzten Freitag war es passiert, und am Freitag zuvor auch, aber sie hatte immer erst im letzten Moment gemerkt, dass es gleich passieren würde, weil sie es beide irgendwie nicht schafften, mit Worten darauf Bezug zu nehmen oder ganz selbstverständlich darauf hinzuarbeiten. Stattdessen hatte sie sich beide Male heftig auf Rodney gestürzt und auf eine Reaktion gehofft, die im Großen und Ganzen auch eintrat. »Wir gewöhnen uns an das Leben, ehe wir uns an das Denken gewöhnen«, las Rodney und notierte dann neben den Satz: »Na und? (unsinnige Argumentation)«.
40. Rumpole of the Bailey
Die Abkühlungsphase zwischen Keisha Blake und Leah Hanwell reichte bis über die Abschlussprüfungen hinaus, und das war zumindest teilweise eine pragmatische Entscheidung seitens Keisha Blake. Leah Hanwell konsumierte inzwischen fast jedes Wochenende das beliebte
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